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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nahm ich sie sogar in die Hand, vielleicht um auszuprobieren, wie es wäre, wenn ich sie morgen einfach zurücktrüge. »

    Eben habe ich sie ausgepackt, diese Tasche. Die ganze Zeit über stand sie so da, wie die Paketpost sie gebracht hatte, viel Schnur und Klebeband, das Packpapier an einigen Stellen eingerissen. Ich fand nicht den Mut, sie auszupacken, aber in die Abstellkammer sollte sie auch nicht. Zweimal ist Stéphane darübergestolpert und fast hingefallen. Er hat sie wieder genauso hingestellt, wie sie vorher gestanden hatte.
    Vier gerahmte Fotos sind unter den Sachen, eine Aufnahme von dir, eine von mir und eine von uns beiden, wie wir uns im Meer den riesigen Wasserball zuwerfen. Es hätte viele Bilder aus jüngerer Zeit gegeben, doch Papa hatte nicht ausgetauscht. Das vierte Foto ist ein Schnappschuß von Maman, den ich noch nie gesehen habe. Ich glaube, es ist in der Mailänder Galleria. Wie jung sie da noch ist! Papa hat sie mitten in einer drehenden Bewegung eingefangen. Wie graziös sie sich damals noch bewegen konnte. Und wie frisch ihre Haut aussieht; noch nichts von dem grauen Schimmer des Morphiums. Bis wir drei oder vier waren, müssen wir sie gespürt haben, ihre frische Haut.
    Zwei Kaffeebecher waren in der Tasche, ein Tauchsieder, Bücher über Klavierbau, ein Arbeitskittel. Und natürlich Schreibsachen. Darunter ein Lineal, das mir die Tränen in die Augen trieb. Es ist ein uraltes, braunes Holzlineal, übersät mit Tintenflecken. In der einen Ecke steht in eingestanzten Buchstaben INSTITUT HOFFNUNG, in der anderen INSTITUT ESPOIR. Vaters Heim. Warum er gerade dieses Lineal hat mitgehen lassen - wer weiß. Das Rührendste: Er hat die beiden Wörter HOFFNUNG und ESPOIR ausgemalt, immer wieder, die Buchstaben sind von der vielen eingetrockneten Tinte rabenschwarz. Wie zynisch ihm diese Wörter vorgekommen sein müssen, der pure Hohn. Ich stelle ihn mir vor, wie er während der Schulstunden dasitzt und die eingegrabenen Buchstaben entlangfährt, das Gesicht gänzlich verschlossen, um die Stimme von Gygax nicht zu hören. Du hattest recht: Man würde ihn auf dem Klassenfoto allein schon an der Verschlossenheit seines Gesichts erkennen. Die Fotos sind nun alle zusammen in einer Mappe. Aber was mache ich mit den Sachen aus der Tasche?
    Warum hast du die Tasche nicht zurückgetragen, Papa, warum nicht! Am nächsten Morgen einfach zurückgetragen, ins Geschäft. Es wäre ein ganz normaler Arbeitstag geworden und ein normaler Feierabend. Dann stünde die Tasche jetzt nicht hier wie das Mahnmal einer Katastrophe. Und ich müßte dir nicht zuhören, wie du darüber nachdenkst, daß die Musik für dich vielleicht nichts weiter gewesen ist als eine gigantische Lebenslüge.

    «Ich kannte mich nicht mehr aus. Als ob ich das nicht besser wüßte als alles andere, zählte ich meine Partituren: vierzehn. Das sei eine ziemlich dürftige Anzahl für einen Zeitraum von dreißig Jahren, sagte nachher jemand im Traum zu mir, nicht einmal eine alle zwei Jahre. Viel fehle dazu aber nicht, und immerhin sei es eine zweistellige Zahl, verteidigte ich mich. Aber meine Worte fielen … fielen in den leeren Raum. Einen wirklich ganz leeren Raum, aus dem ein höhnisches Lachen kam. Ich hörte es zwar nicht richtig, dieses Lachen, aber ich war ganz sicher, daß es da war und mir galt. Ich war froh aufzuwachen und in einen hellen Tag hinauszusehen. Ich schloß noch einmal die Augen und genoß das Wissen, daß alles nur ein böser Traum gewesen war. So, wie ich es als Junge immer gemacht hatte. Im Bad rauschte das Wasser. Als es aufhörte, fiel Chantals Stock gegen die Badewanne und glitt ab, wie oft hatte ich dieses Geräusch schon gehört. Ich sah sie vor mir, wie sie sich nun bücken würde, das Gesicht schmerzverzerrt. In diesem Augenblick wurde ich ganz wach und wußte, was heute geschehen würde.
    Der Mittwoch war ein einsamer Tag. Das war das Wichtigste an diesem schrecklichen Tag: daß wir einsam waren. Ich auf jeden Fall war es, und ich glaube, ich kann es auch für Chantal sagen. Wir wußten nichts miteinander anzufangen. Ausgerechnet an diesem Tag. Und ausgerechnet am Ende einer Zeit, die uns einander so nahe gebracht hatte wie nie zuvor. Wir blieben in unseren Zimmern und fragten uns wohl beide, was der andere tat. Ein einziges Mal nur trafen wir uns, sozusagen. Es war am Vormittag, und das Telefon hatte geklingelt, für meine Ohren viel lauter als sonst. Aufgeschreckt waren wir beide ins Entrée getreten.

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