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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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einmal das merkwürdige Gefühl, mich insgeheim, ganz im Inneren, davonzuschleichen. Weg vom Haus, von Chantal, von euch. Es war nichts, was ich tat, eher war es etwas, was mir zustieß. Vielleicht sollte ich deshalb besser sagen: Ich wurde davongetragen, wie von einer sanften, aber unwiderstehlichen Strömung … Verstehst du?»
    Ja, Papa, ich verstand. Ich brauchte dich nur anzusehen, wie du dasaßest, ein scheuer, linkischer Gast in einem noblen Haus, das niemandem von uns mehr ein Heim sein würde. Auch daß du an jenem Abend von uns, von Patrice und mir, abgerückt warst, auch das verstand ich. Wie könnte ich es nicht verstehen! Wir sind damals gegangen, ohne auch nur Adieu zu sagen. (Daß das mehr mit uns als mit dir zu tun hatte, das ist etwas, was ich dir nicht erklären konnte.) Und trotzdem: Ich krümmte mich unter deinen Worten zusammen.
    «Besonders deutlich war jenes Gefühl, als ich nachher durchs Entrée ging, in dem ich mich immer verloren gefühlt habe. ‹Du hast …›, sagte Chantal, als sie die vollgestopfte Tasche sah, in die ich die persönlichen Dinge aus dem Geschäft gepackt hatte, als die anderen bei Tisch waren. Sie muß den langen Brieföffner mit dem Löwenkopf erkannt haben, der ein Stück herausragte, jedenfalls wußte sie sofort Bescheid. Den Satz machte sie nicht fertig, es war, als habe ihr der Anblick den Atem geraubt. Das hatte sie sich nicht klargemacht, daß auch das dazugehören würde. Oder sie erschrak über das Geordnete, Planvolle meines Tuns, ich weiß es nicht. Es muß ihr das Gefühl des Endgültigen gegeben haben, des Unwiderruflichen.
    Ich machte die Polstertür zu, etwas, was ich seit Monaten nicht mehr getan hatte. Kaum hatte ich sie geschlossen - die Hand hatte ich noch auf der Klinke -, machte ich sie wieder auf, um sie nach wenigen Augenblicken erneut zu schließen. Ich wußte nicht, was richtig war. Lange stand ich vor dem Regal mit meinen Partituren. Draußen rauschte und prasselte der Regen, immer größere Wassermassen stürzten herunter, ganz automatisch fragte ich mich, ob das Dach dicht sei. Die Rücken der gebundenen Partituren … irgend etwas war mit ihnen, sie sahen plötzlich so anders aus. Genau gleich wie immer und doch anders. Als ob sie auf einmal nicht mehr zu mir gehörten. Irgendwie lächerlich sahen sie aus, besonders die Fäden der Leineneinbände, die sich durch das viele Anfassen gelöst hatten und nun unordentlich herunterhingen. Jahrzehnte meines Lebens, so kam es mir vor, fingen in diesem Moment an zu brökkeln, ein lautloser innerer Zerfall begann. Ich verstand nicht, was da mit mir geschah. Das verstand ich erst später, in der Loge. Jetzt war ich damit beschäftigt zu verhindern, daß aus dem Zerfall ein Einsturz wurde. Das durfte nicht geschehen. Zwar kannte ich mich in mir selbst nicht mehr aus; aber ich wußte, das durfte nicht geschehen. Ich schob es auf das Unheimliche, das der sintflutartige Regen an sich hatte. Ich wußte, daß es nicht wirklich daran lag. Vorerst aber wollte ich es glauben und ging durch alle Räume und prüfte, ob die Fenster richtig geschlossen waren.
    Nach Mitternacht war der Regen vorbei, jetzt hörte man draußen eine tropfende Stille. Das Gefühl, das mich früher am Abend überfallen hatte, war immer noch da. Es war ein Gefühl des Verlusts, soviel verstand ich inzwischen. Nicht irgendeines Verlusts. Eines umfassenden, bedrohlichen Verlusts. Chantal schlief, als ich hinunterging. Ich setzte mich in diesen Sessel hier und schlug die Partitur von Michael Kohlhaas auf. Es war die Kopie, das Original haben sie mir bis heute nicht zurückgeschickt, diese Lumpen. Noch nie hatte ich meine Partituren im Sessel gelesen, ich kam mir vor wie ein begutachtender Fremder.
    Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll: Ich fand die Oper miserabel, hundsmiserabel. Die Melodien, hatte ich den Eindruck, waren einfältig und pathetisch, und das ganze Libretto erschien mir läppisch. Leise, so daß Chantal nicht geweckt würde, spielte ich das eine oder andere. Ja, einfältig. Unbedarft. Passend zu meinen groben Fingern. Ich konnte sie nicht länger auf dem glänzenden Elfenbein der Tasten sehen, diese Finger, und machte den Deckel zu. Ich ging durch das Zimmer wie einer, der sich in einer fremden Stadt verirrt hat. Was bedeutete diese Entdeckung? Was bedeutete sie für morgen? Die Tasche mit den Sachen aus dem Büro stand dort drüben, wo du sie auch jetzt siehst, immer noch unausgepackt. Ich betrachtete sie. Einmal

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