Der Klavierstimmer
Damit wir frei werden können voneinander?
In diesem Augenblick bist du auf dem Flug nach Frankfurt, um dann in einer endlosen Nacht weiterzufliegen bis hinter die Anden, fast bis zu den Osterinseln. Die aberwitzige Distanz, die du damals zwischen uns gelegt hast, kommt mir gewalttätig vor. Ich finde sie kindisch, deine Maßlosigkeit. Ich liebe sie.
In dem Augenblick, als ich auf den Mexikoplatz hinaustrat, bog der Möbelwagen in die Limastraße ein. Ich blickte ihm nach, bis er vor dem Haus hielt. Es wird nicht geschehen, dachte ich: Er wird das Haus nicht einfach räumen lassen und dann seines Weges gehen. Die Art, wie du Papas Partituren beim Einpacken in den Händen hieltest, mit dieser zärtlichen Nachdenklichkeit, die dich so unwiderstehlich macht: Ich war sicher, daß du noch etwas unternehmen würdest. Auch die Art und Weise, wie du den Flügel betrachtet hast: Es war mit Händen zu greifen, daß es dir unmöglich sein würde zuzusehen, wie sie ihn sang- und klanglos zerlegten und hinaustrugen, ein Möbel unter anderen Möbeln.
Aber natürlich ist das Unsinn. Du wirst den Metallkoffer mit den Partituren zur Post gebracht haben. Vielleicht würde er sogar im selben Flugzeug mitfliegen, hast du gemeint, sozusagen unter deinem Sitz. Einen halben Tag bist du von Geschäft zu Geschäft gefahren, bis du einen Koffer fandest, der dir vertrauenswürdig erschien. So wolltest du es: Ich würde die Bücher und die anderen Unterlagen nehmen, du die Partituren. Partituren, die wir nie hören werden. Die niemand je hören wird.
Du wirst möglichst weit weg in ein anderes Zimmer geflüchtet sein, als sie den Flügel holten. Ich sehe dich vor mir, wie du am Fenster stehst ohne etwas zu sehen, die geballten Fäuste in den Taschen, die Lippe zwischen den Zähnen. So viele Jahre sind vergangen, und ich kann dich immer noch erraten. Früher, wenn das geschah, pflegte ein Erstaunen auf deinem Gesicht zu erscheinen, in dem sich Freude mit Erschrecken mischte. Dieses Erschrecken, es hätte etwas sein können, was Raum zwischen uns schuf, eine Aufforderung zur Abgrenzung. Doch du schienst dein eigenes Erschrecken nicht zu bemerken oder wolltest es, da es etwas Trennendes war, nicht wahrhaben. Und bei nächster Gelegenheit suchtest du mir zu zeigen, daß du mich in derselben Weise zu erraten vermochtest. Nicht, daß dir das nicht oft gelungen wäre. Doch manchmal, und immer öfter, errietest du nicht wirklich mich, sondern dich in mir.
Noch etwas anderes spürte ich, als ich dich mit den Partituren in der Hand neben dem Flügel stehen sah: deinen unausgesprochenen Vorschlag, uns Vaters Musik gemeinsam zu erschlie ßen. Laß uns jemanden suchen, der diese Noten zum Klingen bringt, wolltest du sagen. Nach allem, was war, sind wir das Vater schuldig. Und es ist etwas, das wir gemeinsam tun müssen; schließlich war es auch etwas Gemeinsames, daß wir uns gegen diese Noten und die Musik überhaupt verschlossen haben. Es könnte die Chance sein, das Universum der Töne endlich zurückzugewinnen, oder besser: es zum erstenmal richtig zu betreten. Laß uns so lange noch hierbleiben. Es soll das letzte sein, was wir gemeinsam tun.
Wie immer wärest du in deinem Werben mit Worten sehr überzeugend gewesen. Doch natürlich wäre, was du vorschlagen wolltest, keineswegs das letzte geblieben. Im Gegenteil, es hätte sich dadurch zwischen uns eine neue Geschichte angesponnen. Das war in deinen Augen zu lesen. Da wußte ich, daß ich gehen mußte; daß ich die Grausamkeit aufbringen mußte, sofort und für immer zu gehen. Es überkam mich die alte Wut darüber, daß du mich immer in die Rolle der Grausamen drängst, die den ersehnten Gleichklang verweigert; daß du in der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit derart unbeherrscht bist. Du kannst unendlich geduldig und beherrscht sein, wenn du dieser Sehnsucht dienst und ein Ziel verfolgst, in dem sie zum Ausdruck kommt. Beherrscht bis zur Selbstverleugnung vermagst du dann zu sein, du hast einen unerhört langen Atem dabei und eine unerschöpfliche Phantasie. Nur was die Sehnsucht selbst anlangt, läßt du dich gehen wie ein kleines Kind. Da hat Maman ganze Arbeit geleistet.
Ich konnte deinen enttäuschten Blick spüren, als ich heute früh meinen Becher, statt ihn mitzunehmen, in die Geschirrablage tat. (Wäre dieser Blick nicht gewesen, ich hätte ihn vielleicht mitgenommen.) Und spüren konnte ich auch, wie du mir zusahest, als ich die Handschuhe überstreifte. Du wirst dabei an die Handschuhe
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