Der Klavierstimmer
dagegen, das war die Vergangenheit vor unserer Vergangenheit, graue Vorzeit sozusagen, in der Papa ein Leben gelebt hatte, das wir nur aus Erzählungen kannten, die gar keine wirklichen, zusammenhängenden Erzählungen waren, sondern nur Fragmente, winzige Fragmente, die zudem in abgekürzter Form zur Sprache kamen, so daß sie zu etwas Schematischem verblaßten, das man zitierte, ohne sich darum zu kümmern.
Selten nur ragte etwas aus jener fernen Vergangenheit in unsere Gegenwart hinein. Wie wenn Papa plötzlich stehenblieb und jemandem, der gerade an ihm vorbeigegangen war, hinterherschnüffelte, die Augen halb geschlossen, ganz darauf konzentriert, den augenblicklichen Geruch mit der Erinnerung an Pierres Geruch zu vergleichen. Die Vergangenheit griff nach ihm und ließ ihn wie gebannt stillstehen, als habe das Codewort eines Hypnotiseurs zu wirken begonnen. Comme un chien , sagte Maman wütend, wenn wir auf ihn warten mußten. Weißt du noch? (Ich glaube, es war bei Maman auch Eifersucht auf Pierre, das Gefühl, daß Papa den blinden Klavierstimmer mehr geliebt hatte als sie - oder vielleicht nicht mehr, aber doch mit einer Art Liebe, die seine echteste Liebe war und die er nie wieder jemandem entgegenbringen würde, eine einmalige, unwiederholbare Liebe.) Dabei war das ja noch etwas aus dem jüngeren Teil jener Vergangenheit, in dem es den Namen Delacroix schon gab. Der ältere Teil, das waren die Jahre mit den Schulzeugnissen, von denen Papa nun sprach.
«Fritz Bärtschi war ein miserabler Schüler», sagte er, und die Tatsache, daß er von diesem Schüler in der dritten Person sprach, nahm der früheren Anklage etwas von ihrer Schärfe, lag doch darin etwas, was die wütende Identifizierung wieder aufhob. Papa setzte sein schelmisches Lächeln auf, und nun war er wieder der alte.«Jedenfalls sagen das die Zeugnisse. Ich selbst fand es nicht. In manchen Fächern fand ich mich richtig gut. Zum Beispiel im Kopfrechnen. Immer, wenn es um Zahlen ging. Gygax hatte da nicht den Hauch einer Chance gegen mich. Das wußte er. Deshalb nahm er mich nie dran und freute sich über alle Maßen, wenn er mir das Heft mit Rot versauen konnte. Man konnte es richtig sehen, er hatte viel mehr von der roten Tinte verspritzt als nötig. Faul , schrieb er mit Vorliebe darunter, faul .
Beim Schriftlichen nämlich ging nichts. Ich habe Papier gehaßt, vor allem die karierten Hefte, die einem alles vorschreiben. Als wir nach Deutschland kamen, hörte ich zum erstenmal das Wort kleinkariert und habe es sofort gemocht, weil es so treffend ist. Es trifft haargenau den Geruch des damaligen Schulzimmers nach Wichse und Desinfektion. Bei den Sprachen war es das gleiche. Die Rechtschreibung beherrsche ich ja bis heute nicht. Sie hat mich nie interessiert.
Was mich interessierte, war der Klang der Wörter. Und ein Klanggedächtnis muß ich schon als ganz kleines Kind gehabt haben. Ich vergaß kein neues Wort. Wir hörten viel Radio zu Hause, das Radio lief ständig, deutsch und französisch, wie es gerade kam. Fritz Bärtschi war nicht der Schnellste, wenn es um Bedeutung ging, aber die Wörter als Klanggebilde faszinierten ihn, er preßte sein Ohr an den Apparat, ganz dicht, so daß die Mutter eine Weile dachte, er höre schlecht, und mit ihm zum Arzt ging. Im Heim waren sie baff über den Umfang meines Wortschatzes und entsetzt über das Durcheinander beim Anwenden, ganz zu schweigen vom Mélange aus Deutsch und Französisch, das ich nicht so empfand, es war alles eine einzige Sprache für mich.
‹Du bist ein Wortanarchist›, sagte Gerber, der die Sprachen unterrichtete. Keiner im Klassenzimmer verstand das Wort, ich auch nicht, aber sein Klang gefiel mir, und wann immer man mir in Zukunft einen Fehler vorhielt, sagte ich: ‹Ich bin eben ein Wortanarchist.› Erst viel später habe ich das Wort Anarchist nachgeschlagen. Danach gefiel mir Gerbers Bezeichnung noch viel besser. Aber eben, die Noten in den Zeugnissen waren entsprechend. »
Die Zeugnisse von Fritz Bärtschi liegen hier vor mir. Es sind wirklich miserable Zeugnisse. Nicht nur die Fachnoten sind schlecht. Schlecht, eigentlich vernichtend sind auch die charakterlichen Beurteilungen: verstockt, trotzig, renitent, nachtragend . Und dann kommt eine Bemerkung, deren Doppelbödigkeit Gygax offenbar nicht aufgefallen ist: unbeeindruckbar durch Drohungen . So, genau so war Papa auf der Wache, nach der Verhaftung. Die Polizisten, sagte Dupré, waren irritiert über so viel
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