Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
hieß das, hatte noch niemand den Artikel gelesen. Gut, der Verfasser des Texts hatte auch gewußt, was ich nun wußte. Aber ihn stellte ich mir als jemanden vor, der inzwischen verstorben war. Ich war sein allwissender Nachfolger.
    Eines Tages kam ich an einer Musikalienhandlung vorbei, die im Schaufenster eine Reihe von Taschenpartituren liegen hatte. Es störte, ja empörte mich, daß diese Bändchen, über die nur ich wirklich Bescheid wußte, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden, das nichts davon verstand. Aufgebracht ging ich hinein und fragte die Bedienung, ob sie wisse, was eine Partitur sei. Die Frau antwortete mit mütterlichem Wohlwollen, das mich zur Weißglut brachte. ‹Eine Partitur, das ist so etwas›, sagte sie und zeigte mir ein Bändchen, das sie aus dem Regal genommen hatte. ‹ Ich weiß, was eine Partitur ist›, schnauzte ich sie an, ‹aber wissen Sie es? Wußten Sie zum Beispiel, daß Partitur eigentlich Einteilung heißt? Und daß das Wort vom lateinischen partiri kommt? Und daß …? Und daß …?› Die Frau wußte nicht, wie ihr geschah, als ich zu ihr wie ein schadenfroher Anwalt vor Gericht sprach, der es genießt, eine Beweislücke nach der anderen aufzudecken.
    Als ich schließlich wieder auf der Straße stand, hatte ich das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben, das ich leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte. Doch nach und nach verblaßte die unselige Episode im Musikgeschäft, und mein geheimes Wissen über Partituren gewann seinen Zauber zurück. Wann immer ich unglücklich war, ging ich in die Bücherei und las den Artikel über Partituren, obwohl ich ihn inzwischen wortwörtlich auswendig konnte. Auf die Idee, daß auch andere Dinge in dem Lexikon, das die ganze Welt der Musik umfaßte, interessant sein könnten, bin ich lange nicht gekommen.»
    Auf Papas Gesicht erschien jener eigentümlich selbstbewußte Ausdruck, mit dem er jeden Spott über sich selbst zu begleiten pflegte und der um so selbstbewußter wurde, je abwegiger das eigene Tun war, über das er sich, allem fremden Kopfschütteln zuvorkommend, lustig machte. Er stand zu sich selbst, gerade in seiner unnachahmlichen ironischen Distanz tat er es. Und er hat diese schwierige Aufgabe besser gelöst als all diejenigen, die über ihn den Kopf schüttelten. GP zum Beispiel, ich glaube nicht, daß er auch nur ahnte, was das heißt: zu sich selbst stehen. Auch wenn man es ihm erklärt hätte: Er hätte es garantiert mit Selbstzufriedenheit verwechselt, von der er reichlich besaß.
    «Einmal», fuhr Papa fort,«stand der richtige Band des Lexikons nicht im Regal, als ich kam. Der Schweiß brach mir aus, und ich verlor völlig die Fassung: Es war doch mein Band! Ein alter Mann las darin, ich entdeckte ihn in der hintersten Ecke. Er blickte unsicher auf, als ich neben ihn trat, um … Ich weiß nicht, was ich wollte. Die wäßrigen Augen des Alten hielten mich davon ab zu fragen, wie lange er noch lesen werde. Ich holte mir einen anderen Band des Lexikons und begann zu blättern. Es geschah aus Verlegenheit, um die Zeit totzuschlagen, bis ich wieder an meinen Band konnte. Es wurde der Anfang einer langen, glühenden Zeit, in der ich alle sieben Bände des Lexikons verschlang, keinen einzigen Artikel ließ ich aus. In der Freizeit sah man mich nicht mehr, ich konnte das Ende der Schulstunden kaum erwarten und verschwand sofort im Lesesaal der Bücherei, wo mich inzwischen das gesamte Personal kannte und freundlich behandelte, wenn auch mit gönnerhaftem Lächeln. Mein Wissen über Musik wuchs und wuchs, und wenn ich über all die vielen Komponisten las, so war es wie ein Rausch, der mit der Erinnerung an den ersten Opernbesuch, die Kronleuchter, das Purpur der Sitze und das Gold der Verzierungen verschmolz. Und all diese Dinge wurden angestoßen durch ein einziges Wort, das mich in seinen Bann geschlagen hatte: PARTITUR.
    An diese Dinge dachte ich, als ich am Mittwoch abend im Dunkel in der Loge saß. Wir saßen sehr steif dort, Chantal und ich. Als die Lüster erloschen, strich mir Chantal kurz mit dem Handrücken über die Hand auf der Lehne, so leicht und kurz, daß ich nicht sicher war, ob es nicht aus Versehen geschah. Und weil ich nicht sicher war, wandte ich ihr mein Gesicht nicht zu, sondern setzte mich nur ein bißchen aufrechter hin, und nach einer Weile legte ich die Hand auf die Manteltasche mit der Pistole.
    Später, in der Zelle, als ich mir alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ, hätte

Weitere Kostenlose Bücher