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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ich nicht sagen können, von wann an ich wußte, daß ich es nicht tun würde. Im Laufe des Nachmittags hatte mich eine merkwürdige Gereiztheit erfaßt. Es hatte mit Fritz Bärtschi und seinen Zeugnissen zu tun, glaube ich. Ich hatte sie mit den Zeugnissen von Frédéric Delacroix verglichen, der fleißig geworden war, fast ein Streber, um für die Lehre als Klavierbauer gerüstet zu sein. Wie soll ich sagen: Fritz Bärtschis Zeugnisse hatten mir besser gefallen. Ja, das war es: Sie hatten mir besser gefallen. Dieses Gefühl, es hatte Folgen. Frédéric Delacroix nämlich kam mir auf einmal fremd vor. Nicht vollständig fremd, natürlich, nicht so wie ein anderer Mensch. Aber ich war nicht mehr ganz er. Ich und er, wir paßten auf einmal nicht mehr richtig zueinander. Das war überraschend gekommen, und ich hatte noch keine Zeit gehabt, mir einen Reim darauf zu machen. Ich merkte nur, daß ich abseits stand, als Frédéric Delacroix, die Pistole in der Tasche, ins Taxi stieg und zur Staatsoper fuhr. Auch beim Betreten der Oper, bei der Garderobe und auf dem Weg zur Loge stand ich abseits.
    Der Italiener betrat die Bühne. Der Vater meiner Kinder. Euer Vater. Etwas stimmte nicht. Ich war viel weniger aufgeregt als erwartet. Für diesen besonderen Moment hatte ich mir mehr an Gefühl zugetraut. Der Maler Cavaradossi sang göttlich, überrascht war ich nur, wie verfettet er aussah. Ich sagte mir die Tatsachen vor: der erste Brief aus Monaco; der zweite Brief; die Telefonanrufe nach Monte Carlo; die Reise nach Monaco; die Veruntreuung der Stiftungsgelder; Chantals Unfall in Bern; ihr Fall von der Leiter; ihre Schmerzen; das Morphium. Ich war erstaunt, daß es nötig war, mir diese Dinge ausdrücklich in Erinnerung zu rufen. Noch erstaunter war ich, daß es ziemlich mühsam war, sie alle zu behalten. Wie wenn man einen müden Kopf hat und das Gedächtnis nicht mehr richtig funktioniert. Nicht nur erstaunlich, sondern beunruhigend war: Sie wogen zuwenig, diese paar Tatsachen. Auf die Idee, daß sie nicht schwerwiegend genug sein könnten, wäre ich vorher nicht im Traum verfallen. Wochenlang hatte ich mich nicht mehr gespürt vor Haß, und jedes Klopfen von Chantals Stock hatte diesen Haß mit neuer Heftigkeit durch meine Adern getrieben. Nun saß ich da, sah auf den Italiener hinunter und fragte mich: Was hat er eigentlich getan?
    Von der Oper habe ich bis zur Pause kaum etwas mitbekommen. Ich begann mich mit jemandem zu beschäftigen, an den ich jahrzehntelang nicht mehr gedacht hatte: mit Henri, meinem Vater. Beim Ordnen meiner Sachen hatte ich das Foto gefunden, das Solange, meine Großmutter, zögernd herausgerückt hatte, als ich nach dem Tod von Mutter nicht lockerließ. Es war das einzige Foto, das Odile von Henri besessen hatte.»

    Das Bild liegt vor mir: Ein noch junger Mann, aber ein bereits verlebtes Gesicht mit Furchen und Tränensäcken, der Alkohol ist nicht schwer zu erraten. Die gleiche Nase wie Papa, die gleichen ausgeprägten Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunter. Graue Augen, der Blick gewieft, eigentlich sogar verschlagen. Ein scheues, weiches Lächeln, das nicht recht zu dem sonstigen Gesichtsausdruck paßt, der herausfordernd und arrogant ist. Er war dein Vater, Papa, aber ich glaube, ich mag ihn nicht. Nein, ich mag ihn überhaupt nicht. Obwohl du ihn nun verklärtest und darüber beinahe ins Schwärmen gerietest.

    «Er war ein Schürzenjäger, ein Don Juan der derben Art. Im Bahnhofsbuffet kassierte er von Odile vor aller Augen eine Ohrfeige, weil er sie in den Po gekniffen hatte. Das ist eines der wenigen Dinge, die mir Mutter über ihn erzählt hat. Was ich, der kleine Junge, nicht verstand: warum er trotz dieser Ohrfeige mein Vater geworden war, sich dann aber nie blicken ließ. Ein bißchen mehr erfuhr ich später von Solange: Er lebte von Gelegenheitsarbeit. Muskeljobs. Tat, wonach ihm gerade war. Wenn der Circus Knie in der Gegend war, machte er Kasse. Am Nachmittag, in der Tierschau, zeigte er kleine Akrobaten- und Clown-Nummern für die Kinder, abends trat er als Taschendieb auf, das Publikum grölte. Muß gesoffen haben wie ein Loch. Aber nie bei der Arbeit. Als Taschendieb, meine ich. Er hatte sehr lange, feine Finger, sagte Mutter. Ganz anders als ich. Beim Stehlen muß er unglaublich geschickt gewesen sein. Einmal, ein einziges Mal, war er beim Klauen angetrunken. Da haben sie ihn geschnappt. Er ist im Gefängnis gestorben, an Leberzirrhose. Ein Taschendieb war er,

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