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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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‹Laß nur›, sagte ich, ‹das ist das Geschäft.› Dann stellte ich den Apparat auf leise, und wir gingen zurück, jeder in sein Zimmer. Ich versuchte, nicht an die nächtliche Episode mit den Partituren zu denken, und begann, meine Sachen zu ordnen.
    Ich fand meinen Geburtsschein und die frühen Schulzeugnisse. FRITZ BÄRTSCHI steht darauf. FRITZ BÄRTSCHI.»
    Die weißglühende Wut, die daraufhin zischend aus Papa herausbrach, verfolgt mich bis in die Träume hinein. Sie hatte sich durch nichts angekündigt, plötzlich sprach er einfach in diesem fürchterlichen Staccato und bewegte zwischen den einzelnen Sätzen die Lippen, vor und zurück, vor und zurück, es war wie ein Anfall, der ihn mit sich fortriß.
    «Ihr habt nie nach meinem wirklichen Namen gefragt. Du nicht, Patrice nicht, Chantal nicht. Nie. Kein einziges Mal. Als hätte es mich unter diesem Namen nie gegeben. Fritz Bärtschi heiße ich. Fritz Bärtschi. Mit ä , einem offenen ä . Georges hielt sich den Bauch vor Lachen, als er den Namen hörte. Und sprach ihn absichtlich mit spitzem, französischem é aus. Aber ich heiße Bärtschi. Mit ä. Ob es euch paßt oder nicht. Bärtschi, sagte Gygax, das gibt es doch gar nicht, ein derart häßlicher Name. Aber es ist mein Name, mein wirklicher Name. Fritz Bärtschi. Mit ä . Ein gewöhnlicher Name. Gewöhnlich, wie ich es bin. Mit gewöhnlichem ä . Meine Mutter nämlich hieß Bärtschi, Odile Bärtschi. Das paßt doch überhaupt nicht zusammen, sagten sie im Bahnhofsbuffet. Aber so hieß sie, ob es den anderen paßte oder nicht. So heißen wir eben, sagte sie zu mir. Ihr wolltet immer nur Delacroix hören, du und Patrice und Chantal. Den Namen von Pierre, den ich bei der Adoption erhielt. Den vornehmen Namen des Malers. Und Frédéric. Wie Chopin. Fritz, das war nicht gut genug. Aber ich heiße Fritz, Fritz Bärtschi. Davon wolltet ihr nichts hören.»
    Ich fiel aus allen Wolken, Papa. Woher sollte ich wissen, daß dir dein erster Name so viel bedeutete? Es ist nicht wahr, daß dich niemand von uns danach fragte. Natürlich ist es nicht wahr. Es war nicht oft, daß wir darüber sprachen, das stimmt. Wozu auch. Aber wir kannten den Namen natürlich, und woher sollte GP ihn gekannt haben, wenn nicht von Maman? Noch während du sprachst, wußte ich, daß deine Tirade nicht wörtlich zu nehmen war. Aber wie war sie sonst zu verstehen? Du warst stolz auf den angenommenen Namen, besonders wenn Maman ihn aussprach, sie konnte ihn regelrecht zelebrieren. Du warst stolz, daß du ihn auf deine Partituren schreiben konntest. Nein, es ist unmöglich, daß ich mich darin täusche. Du liebtest den Namen, weil du Pierre liebtest. Ich verstand deine Wut nicht, als sie sich entlud. Ich verstand nicht, warum du plötzlich zurück wolltest zu deinem alten Namen. Erst als du erzähltest, wie es dir in der Loge ergangen war, da verstand ich.
    Nach seinem Ausbruch war Papa verlegen. Langsam wurden seine Augen, die hart und schwarz gewesen waren wie vorher nie, wieder sanfter und heller. Er rieb sich die Schulter, dann den Oberarm. Schließlich fuhr er sich mit der Handfläche übers Herz und machte langsame, kreisende Bewegungen. Fritz Bärtschi, sagte ich mir innerlich vor, Fritz Bärtschi. Ich versuchte, aus dem Vorsagen ein Anreden zu machen, ein stummes Ansprechen. Es ging nicht. Was sind doch Namen für seltsame Wesen! Sie bedeuten nichts, ihre einzige Bedeutung ist ihr Klang. Und doch kann man sie nicht einfach austauschen. Es muß in uns viel geschehen, damit ein Tausch möglich wird. Wir müssen den Betreffenden neu sehen lernen.
    Fritz Bärtschi: Ich verengte die Augen, als ginge es darum, Papa in seinen sichtbaren Umrissen genauer zu erkennen als bisher. Wurde er, wenn man ihn mit dem neuen alten Klang umgab, mehr er selbst? Ich sprang zwischen den beiden Namen hin und her, es war, wie wenn ein Gegenstand durch abwechselnde Lichtquellen beleuchtet wird. Fritz Bärtschi: Was vorhin noch überhaupt nicht gegangen war, schien jetzt für kurze Momente möglich, bevor der gewohnte Name wieder die Oberhand gewann. Nach und nach begriff ich, daß die beiden Namen ganz unterschiedliche Standpunkte in der Zeit verkörperten, die man in ihrer Verschiedenheit nicht nur denken, sondern erleben konnte. Daß sie wie zeitliche Filter wirkten. Frédéric Delacroix: Das war die Gegenwart - war bisher die Gegenwart gewesen -, und es war dasjenige Stück Vergangenheit, in dem wir ihn als unseren Vater erlebt hatten. Fritz Bärtschi

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