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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gelassenheit. Er habe dagesessen wie auf einer Insel, unberührbar, muß der eine gesagt haben.
    Fritz Bärtschi in Musik: völlig unbegabt , steht neben der schlechten Note.

    «In Musik galt Fritz Bärtschi als eine ganz besondere Null.»Papa lächelte sein trotziges Lächeln.«Zu Recht, aus ihrer Sicht. Ich war ein Brummer, einer, der statt einer Melodie immer den gleichen Ton sang. Ganz wie heute, ich kann ja nicht einmal pfeifen. Und was Noten anlangt, so blieb ich lange ein Analphabet. Für mich war das nur noch mehr Papier. Bis mir Pierre am ersten Sonntagmorgen, nachdem ich bei ihnen eingezogen war, ein ganzes Buch mit gedruckten Noten zeigte und dasjenige Wort aussprach, das wie kein anderes Wort mein weiteres Leben bestimmen sollte, ein Wort, das für immer etwas Kostbares, Geheimnisvolles, fast Heiliges bezeichnete: PARTITUR. Ein magisches Wort, das mich durch seine geheimnisvolle Kraft in eine neue Welt eintreten ließ.
    In den Tagen und Wochen, nachdem ich es zum erstenmal gehört hatte, sah ich alle Leute an, jeden einzelnen, und dachte: Sie kennen dieses wunderbare Wort bestimmt nicht, ich dagegen schon, das habe ich ihnen allen voraus. Dabei hatte ich das Gefühl, einer Elite, einem Adel anzugehören, einer Art Loge oder Geheimbund mit ganz wenigen eingeweihten Mitgliedern. Man konnte den Leuten nicht ansehen, ob PARTITUR ein Wort war, das sie hinter der Stirn mit sich trugen. Aber ich bildete mir ein, einen sechsten Sinn dafür zu haben, so daß ich hin und wieder jemanden sah, von dem ich dachte: Der kennt das Wort. Dann fühlte ich mich auf der einen Seite mit ihm verbunden in diesem kostbaren Wissen, auf der anderen Seite war ich eifersüchtig, daß es nicht ein Wort war, das nur Pierre, Sophie und ich kannten. Ich muß, wenn ich meinen sechsten Sinn in Gang setzte, die Leute mit unverschämter Direktheit angesehen haben, denn sie reagierten mit Ärger, der vielleicht durch die Tatsache gemildert wurde, daß ich noch ein Kind war. Wenn der Ärger auf dem betrachteten Gesicht groß war und das Gesicht häßlich machte, beschloß ich, daß der Betreffende das wunderbare Wort auf gar keinen Fall kennen konnte, sonst wäre da nicht dieser häßliche Ausdruck. Jenes magische Wort zu kennen mußte einen immun machen gegen alles Häßliche, es mußte einen veredeln und herausheben aus dem Gewöhnlichen.
    Dies alles verstärkte sich noch, nachdem ich in der Volksbücherei gewesen war. Die vielen Bücher schüchterten mich ein, und die Frau bei der Aufsicht war unfreundlich und barsch. Es war sonderbar: Der Anblick der vielen Bücher machte mich wehrlos, ich vergaß mit einem Schlag alles, was ich an Selbstverteidigung und schmutzigen Tricks im Heim gelernt hatte. Es war, als habe mir jemand meine Rüstung weggenommen. Lange freilich dauerte das nicht. Ich galt im Heim als dreister, kaltblütiger Lügner, und jetzt machte ich diesem Ruf Ehre, indem ich der Frau ein Märchen über einen Botengang für meine kranke Mutter erzählte. Das stimmte die Frau schließlich gnädig, so daß sie mich durch die endlose Reihe von Regalen zu den Lexika führte.
    Lange saß ich an einem Tisch und las den ausführlichen Artikel PARTITUR stets von neuem. Nach dem dritten- oder viertenmal konnte ich ihn so gut wie auswendig und fühlte mich so erhaben über die anderen, daß ich die Bibliothekarin keines Blickes würdigte, als ich den Raum verließ. Jetzt, mit all meinen Kenntnissen über die Herkunft und Bedeutung des magischen Worts, war ich endgültig geadelt, und meine Überheblichkeit kannte keine Grenzen mehr. Auf dem Rückweg teilte ich die Leute nicht nur - wie bisher - in solche ein, die das Wort kannten, und andere. Eine neue Unterscheidung war dazugekommen, die ich mit scharfrichterlichem Blick anwandte: Unter denjenigen, die das Wort kannten, war strikt und erbarmungslos zu unterscheiden zwischen den Banausen, die es irgendwann aufgeschnappt hatten und nun gedankenlos nachplapperten, und den Kennern, die über das im Lexikon ausgebreitete Wissen verfügten. Niemand unter den vielen Leuten, die an jenem Tag zum Bahnhof strömten, bestand meinen Test, auch nicht das Mädchen mit dem Cello und der Mann mit dem unförmigen Kasten, in dem ich eine Posaune oder Trompete vermutete. Insgeheim war ich überzeugt, daß nur ich, ich ganz allein, über dieses Wissen verfügte, und ich fühlte mich darin bestärkt durch die Tatsache, daß die fraglichen Seiten in dem neuen Lexikon noch aneinandergeklebt hatten. Vor mir,

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