Der Klavierstimmer
Schicksal erfahrt Ihr aus der roten Kapsel, die Ihr an mir seht und die Ihr bekommt, wenn Ihr meinen Gatten freilaßt. Der Kurfürst befiehlt die Freilassung von Kohlhaas. Als er die rote Kapsel öffnet, liest er: Das war ein großer Fehler, denn jetzt wißt Ihr: Der Name des letzten Regenten Eures Hauses ist der Eure, und er wird noch vor Ablauf dieses Monats durch die Pest erlöschen! Den Kurfürsten trifft der Schlag. Kohlhaas ist wie vom Erdboden verschwunden.
Nie wird jemand diese Entwürfe lesen. Keine Zeile davon. Dabei arbeite ich täglich viele Stunden daran. Manchmal denke ich: Es ist verrückt. Dann wieder: So ist es richtig, genau so.
In einfachen Worten habe ich Paco von Vater und seiner Musik geschrieben. Und ich habe das Bild von dir (dasjenige mit den Spitzenhandschuhen) beigefügt. Esta es Patricia, habe ich auf die Rückseite geschrieben.
Mein berufliches Leben in Chile habe ich für dich gelebt, Vater. Denn es wurde zu einem Kreuzzug gegen die Erfolgreichen. Bis ich praktisch Berufsverbot erhielt. Jeder Schlag gegen den Erfolg würde die Ungerechtigkeit deines Mißerfolgs mildern: Das muß die Idee gewesen sein, die mich jetzt, wo ich sie von deinem Schreibtisch aus wie die Idee eines anderen betrachte, nur den Kopf schütteln läßt. Indem ich Erfolgreiche zu Fall zu bringen suchte, meinte ich dich am anderen Ende der Welt zu rächen. Mit meiner Flucht hatte ich deine heiseren Predigten über Erfolg hinter mir lassen wollen. Statt dessen wurde ich zu einem spanischsprechenden Kohlhaas für dich. Es war kindisch und konfus, das habe ich wohl gespürt. Und doch habe ich es nicht verhindern können. Zu sehr bin ich dein Sohn.
Als es damals, auf der Hinreise, nach einer endlos scheinenden Nacht schließlich Tag wurde, sah ich auf die Kordilleren hinunter. Los Andes. In jenem Moment waren sie für mich keine Berge an der Grenze eines wirklichen Landes, sondern imaginäre Gebilde meiner Phantasie. Sie gehörten zu einem ersonnenen Land, in das man fliehen konnte, wenn man den Gedanken an Erfolg und die Bitterkeit des Mißerfolgs nicht mehr ertrug. Hier strebte niemand nach Erfolg, und niemand fürchtete sich vor Mißerfolg. Die Menschen taten, was sie taten, weil es sie interessierte und es etwas mit dem zu tun hatte, was sie waren. Ob die Anderen es gut fanden oder schlecht oder langweilig, spielte nicht die geringste Rolle. Die Anderen waren kein Maßstab. Selbstvertrauen schöpfte jeder ganz aus sich selbst; die Anerkennung der Anderen brauchte er nicht. Im Gegenteil: Wenn jemand diesen Menschen die Idee von Erfolg und Mißerfolg erklärte, würden sie befremdet den Kopf schütteln. Wie konnte sich jemand derart von den Anderen abhängig machen! Was für eine verrückte Idee! Auch wenn ich mich immer tiefer in meinen aberwitzigen, zerstörerischen Kreuzzug verwickelte: In einem Winkel der Seele weigerte ich mich bis zuletzt, mir dieses Märchenland nehmen zu lassen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich in dem wirklichen Land nie ganz angekommen bin. Außer bei Paco.
Als ich ankam, war ich zunächst verzweifelt über die engen Grenzen des Ausdrucks, die mir mein winziger spanischer Wortschatz setzte. Noch im Taxi vom Flughafen, als ich zu dem Studenten am Steuer gerne etwas über das winterliche Licht mitten im Sommer gesagt hätte, nahm ich mir vor, diese Grenzen mit aller Macht und in kürzester Zeit zu überwinden. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Mit einemmal fühlte ich mich erlöst durch die Kargheit meiner sprachlichen Mittel. Die Suche nach Worten war zu Ende. Ich konnte alles geschehen lassen, ohne es beschreiben zu müssen. Stille senkte sich auf die Welt und meine Erfahrungen. Die Stille vor der Erfindung der Sprache.
Das Taxi war verschwunden. Ich blickte in braune Baumkronen vor einem blaßblauen, smogverfärbten Himmel. Statt die Pension zu betreten, setzte ich mich gegenüber in das Café mit dem Namen Inca de Oro . Von dem, was der Kellner sagte, verstand ich kein Wort. Ich war froh: Die Stille würde noch eine Weile andauern. Am Ende meiner Flucht angekommen, holte ich Atem, bevor ich die ersten Schritt tat, die jene Stille unweigerlich zerstören würden.
Anfangs wohnte ich mit Studenten zusammen. Calle Moneda war die Adresse, eine Straße, die im Viertel mit den kleineren Universitäten und Instituten beginnt und schnurgerade ins Zentrum führt, vorbei am Regierungspalast, direkt zur Berlitz Escuela de Idiomas , wo ich Unterricht nahm. Es war eine heruntergekommene,
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