Der Klavierstimmer
zuklappte.
Vater, wir sahen immer nur winzige Ausschnitte aus deiner Gedankenwelt. Das meiste behieltest du für dich, es blieb verborgen hinter dem bitteren Lächeln, mit dem du der Welt begegnet bist. Ich habe keinen Menschen getroffen, der sein Leben so sehr im verborgenen lebte wie du. Keinen. Ein bißchen warst du wie von einem anderen Stern.
Was die Stoffe von Vaters Opern anlangt, bin ich aus dem Staunen nicht herausgekommen. Beispielsweise hat er sich tatsächlich an Alexandre Dumas, La Dame aux camélias , herangewagt. Es kommt mir vor, als habe er ausgerufen: Das kann ich auch! Doch wie anders ist seine Traviata! Violetta weigert sich Vater Germont gegenüber, Alfredo aufzugeben. Zwischen den beiden entwickelt sich ein erbitterter Kampf, in dessen Verlauf sie sich nicht scheut, sogar ihre Tuberkulose als Waffe einzusetzen. Wenn Violetta über gesellschaftliche Konventionen herzieht, fliegen die Fetzen. Das Wichtigste aber ist das Beharren auf dem Recht der Gefühle.«Jetzt wundert mich nicht mehr, daß er sich für Kohlhaas begeisterte», sagte Juliette. Musikalisch ist es leider nur ein Abklatsch von Verdi, verglichen damit ist die Kohlhaas-Oper viel selbständiger. Das gilt auch schon für die Vertonung von Balzacs Le Père Goriot.
Überrascht war ich zunächst, daß Vater Eine blaßblaue Frauenhandschrift von Franz Werfel aufgegriffen hat.«Warum überrascht», sagte Juliette,«dein Vater war ein Moralist, denk nur daran, wie er die Angst dieses verwöhnten und feigen Staatsdieners vor der jüdischen Frau und dem möglichen Skandal auskostet.»Irgendwie hat sie recht. Aber Moralist ist das falsche Wort. Es lag Vater fern, jemandem etwas vorzuschreiben. Nichts lag ihm ferner. Worum es ihm ging, war die Unantastbarkeit eines jeden Menschen. Wut und Vergeltungsrausch, sie brechen in seinen Textbüchern dann los, wenn dieses letzte Heiligtum in Frage gestellt wird.
So ist es auch beim Besuch der alten Dame . Vater hat die Vertonung von Dürrenmatts Stück ein Jahr vor der Kohlhaas-Oper abgeschlossen. Was den Wunsch nach Vergeltung anlangt, übertrifft Claire Zachanassian, wie Vater sie entwickelt, Dürrenmatts Figur bei weitem. Wie in der Verfilmung läßt sie die Leute von Güllen Alfred Ills Tod beschließen und ändert danach die Bedingung für das Geld: Er soll am Leben bleiben, und seine mordbereiten Mitbürger sollen mit ihm weiterleben, Tag für Tag. Doch das allein kam Vater zu milde vor. Er läßt sie an Ills Geschäft vorbeidefilieren, einen nach dem anderen. Ill steht unter der Tür und sieht zu, wie sie sich hinknien und ihm buchstäblich die Stiefel ( schmutzig!, heißt es im Libretto) lecken. Sie tun es, denn sie haben sich, das Todesurteil vorwegnehmend, hoch verschuldet und wären ohne das versprochene Geld ruiniert. Ill lächelt siegesgewiß. Da erklärt die alte Dame, daß aus dem Ganzen nichts wird: Solch miesen Schweinen gegenüber fühle sie sich an kein Versprechen gebunden. Sobald man das Pfeifen des Zugs hört, mit dem sie Güllen verläßt, fallen die Güllener über Ill her und lynchen ihn.«Kohlhaas ist mir dann doch lieber», sagte Juliette. Was Vater aber gelungen ist: die musikalische Darstellung von triefendem Sarkasmus. Während der Lehrer seine sophistische Rede hält, in der das Todesurteil über Ill als Akt der Gerechtigkeit gepriesen wird, schaffen die Streicher durch spitze und hektische Tonfolgen, unterbrochen von atemlosem Pizzikato, einen musikalischen Hintergrund, der die Worte des Lehrers unterhöhlt und affig erscheinen läßt. Selbstbewußter Zynismus des Lehrers, sagt Juliette. Ich meine: Sarkasmus des Komponisten.
Was ich am Ende mit all den Kassetten und der ganzen Tontechnik machen werde - ich habe keine Ahnung. Sie nach Chile verschiffen? Ich bin unfähig, soweit zu denken. Meine Gedanken reichen gerade noch bis zu dem Moment, wo wir aus dem Bistro auf die Straße treten und unsere Abschiedsworte sprechen werden. Danach, so kommt es mir vor, wird die Zeit unter mir wegbrechen (wie es Straßen bei einem Erdbeben manchmal tun).
Ich habe begonnen, das Libretto von Michael Kohlhaas ein zweites Mal zu verändern. Lisbeth beschafft sich eine zweite Kapsel, die im Unterschied zur grünen Kapsel der Zigeunerin rot ist. Während sie Kohlhaas auf dem Richtplatz umarmt, entwendet sie ihm die grüne Kapsel und übergibt sie dem Kurfürsten, wie er es verlangt hatte. Als er sie öffnet, liest er Worte, die Lisbeth in der Nacht zuvor hineinpraktiziert hat: Euer
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