Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
war das einzige, was ich herausbrachte, und ich mußte dieses eine Wort den Tränen abtrotzen.«Patrice», erwidertest du und legtest auch deine zweite Hand auf die meine, als sei vor allem ich es, der Trost brauchte.
    «Deine Briefe», sagte ich, als wir im Auto saßen,«ich …ich konnte dir nicht antworten. Ich weiß nicht …ich konnte einfach nicht.»
    «Ach so, das», sagtest du, während du kerzengerade neben mir saßest.
    Für einen Fremden hätten die Worte klingen können, als sei die Sache mit den Briefen längst vergessen. Doch ich wußte es besser. Durch die wenigen Worte warst du mir mit einem Schlag wieder ganz gegenwärtig, ich erkannte jede Nuance von Stimme und Blick. Du hattest nichts vergessen. So wie du niemals etwas vergaßest.
    «Ich … es tut mir leid», sagte ich.
    Du sahst mich mit deinem fürchterlich geraden Blick an.«Es ist geschehen», sagtest du.
    Maman hast du nicht mehr gesehen. An jenem Morgen, den du nicht mehr erlebt hast, hätten wir zusammen hingehen können. Sie hatten sie zurechtgemacht, aber du wärst trotzdem erschrocken. Der Tod ließ, was das Morphium mehr als zwanzig Jahre lang angerichtet hatte, in aller Schärfe hervortreten.«Gerade mal einundfünfzig - niemand würde es glauben», sagte Patty auf dem Heimweg.
    Wir haben sie zusammen gefunden, Patty und ich. Es war keine Überraschung. Sie wachte am Sonntag erst gegen Mittag auf. Atemlos hörten wir, wie sie im Haus herumging. Wie begegnet man einem Menschen, der seinem Leben an diesem Tag ein Ende setzen wird? Wie begegnet man ihm, wenn es die eigene Mutter ist?
    Schließlich ging ich hinunter.«Kann ich etwas für dich tun?»fragte ich.
    «Ich möchte Frédéric heimkommen sehen», sagte sie. Sie zeigte mit bestimmter, fast zorniger Geste auf die Haustür.«Durch diese Tür dort.»Sie ging ins Boudoir. Als sie zurückkam, gab sie mir eines der beiden Kuverts, die in der Nacht auf dem Sekretär gelegen hatten.«Hier, das wird reichen. Du brauchst nur den Anwalt anzurufen.»
    Dupré kam. Er las das Geständnis im Stehen. Langsam ging er im Entrée auf und ab.«Es ist nicht zu machen», sagte er schließlich.«Zwar hat irgendein Untersuchungsrichter Wochenenddienst, und ich werde gleich hinfahren und Druck machen. Aber sie werden ihn nicht sofort freilassen. Zuerst wollen sie hören, was er dazu sagt. Ob er sein Geständnis widerruft und wie er die Falschaussage erklärt. Sie werden auf der Waffe Fingerabdrücke Ihrer Mutter finden wollen, und Schmauchspuren auf der Kleidung. Das braucht Zeit. Und bis dahin hat man sie längst verhaftet. Ich kann zu erwirken versuchen, daß der Haftbefehl erst morgen früh in Kraft tritt. Aber man wird sie auf jeden Fall holen kommen, bevor Ihr Vater draußen ist. Sie wird ihn nicht mehr zur Tür hereinkommen sehen.»
    «Sie wird nicht mehr leben, wenn sie kommen», sagte ich.
    Dupré sah mich lange an.«Dann sollte ich erst morgen früh aufs Gericht gehen. Damit wir sicher sind, daß ihr die Nacht bleibt. Es gibt Untersuchungsrichter, die sind sogar am Wochenende übereifrig.»
    Ich nickte.
    Er zeigte aufs Boudoir.«Ist sie dort drin?»
    Wieder nickte ich.
    Er machte ein paar Schritte, blieb stehen und kam zurück.«Trauen Sie sich zu, ihr die Lage zu erklären?»
    «Ja», sagte ich, und dieses eine Wort kam so mühsam und heiser aus der Kehle, als sei es mein allererstes Wort.
    Ich setzte mich auf die Treppe zur Galerie. Dort pflegte ich als Junge zu sitzen, wenn ich nicht wußte, wie ich Vater oder Maman etwas erklären sollte. Als ich schließlich das Boudoir betrat, stand Maman mit ihrer schiefen Hüfte am Fenster und sah hinaus. Sie drehte sich um und sah mich fragend an. Ich ging auf sie zu und schloß sie in die Arme.
    «Du kannst ihn nicht heimkommen sehen», sagte ich in ihr Haar hinein,«sie würden dich vorher holen.»
    Ich sagte würden und nicht werden . Dann begrub ich sie unter meinen Tränen. Sie hielt mich fest, bis es vorbei war. Sie hatte nicht geweint, und ihre Stimme war klar und sicher.
    «Ich habe es Patricia erklärt. Hat sie es verstanden?»
    Ich nickte.
    «Und du?»
    Wieder nickte ich.
    «Hier. Das gibst du bitte Frédéric.»Sie gab mir das andere, dickere Kuvert.«Meine Sachen sind geordnet. Es ist alles im Sekretär. Ich werde früh zu Bett gehen.»
    Ich umarmte sie ein letztes Mal.
    «Adieu, mon garçon.» Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Sie klangen ganz anders als in den Briefen. Jetzt waren sie richtig, diese Worte. Ich denke daran

Weitere Kostenlose Bücher