Der Klavierstimmer
die falsche Richtung, wenn ich ein Schiff bestiege.)
Als ich Spanisch fließend sprach, ging mir öfter eine Frage durch den Sinn: Welches war denn nun eigentlich meine Sprache? Von welcher Art waren die Worte, in denen ich mich am ehesten aufgehoben fühlte? Ich erfand einen Test: Welche Sprache half mir am meisten, mich im Inneren gegen bedrängende Dinge zu wehren? Der Test fiel zu meiner Überraschung vollkommen eindeutig aus: Es waren die schweizerdeutschen Worte, welche die Angst am besten zu bannen vermochten. Die Ferne nahm der Mundart alles Enge und ließ nur den nüchternen Ton übrig, der der Welt das Beängstigende nimmt, indem er alles auf ein überschaubares Maß reduziert. Die Sätze, die am meisten halfen, waren Sätze, wie Vater sie sagen würde: kurze, lakonische Sätze.
Da begann ich in Gedanken etwas zu tun, was mir nie zuvor in den Sinn gekommen war: Ich fragte Vater um Rat, wenn ich nicht mehr weiterwußte. Das ging gut, bis ich das Gespräch auf Heimweh und Einsamkeit lenkte. Da schwieg Vater. Ich fragte ihn, was das damals im Heim für eine Art von Einsamkeit gewesen sei. Ich wollte wissen, wie nah oder fern seine Empfindung der meinen gewesen war. Er schwieg, und ich sah lediglich das spöttische Lächeln vor mir, das seine Verletzlichkeit nur unvollkommen zu übertünchen vermochte.
In der ersten Zeit wunderten sich die Lehrer über den neuen Schüler. Lidia Paredes, welche die meisten Stunden gab, erzählte mir später, am verblüffendsten sei gewesen, wie ich an einem Tag bei einem Thema rein gar nichts zu verstehen schien, nur um am nächsten Tag reihenweise korrekte, wenn auch ungelenke Sätze darüber zu sagen. Sie konnte nichts von der Sprache der Verlassenheit wissen, die ich wie einen Feind studierte, den man in- und auswendig kennen muß, um ihn besiegen zu können. Ich sprach alle neuen Wörter und Redewendungen auf Tonband. Das Band anzustellen war das erste, was ich am Tage tat, es abzustellen das letzte. Überall im Zimmer, wo mein Blick regelmäßig hinfallen würde, hingen Zettel mit widerspenstigen Wörtern. Mein System war einfach: In jeder Schulstunde Dutzende von Seiten mit Notizen über Unverstandenes füllen, zu Hause nachschlagen, Tonband an, Tonband aus, zurückspulen. Die Träume waren voll von zusammenhanglosen spanischen Wörtern. Später nahm ich Radiosendungen auf, um mich an die chilenische Aussprache zu gewöhnen, die alles verschleift und verschluckt. Ich ordnete die Bänder nach Sprechgeschwindigkeit und Artikuliertheit: am einen Ende die Nachrichten, am anderen aufgeregte, sich überschlagende Sportreportagen. Erlitt ich beim Abhören eines schwierigen Bandes Schiffbruch, ging ich zum nächsteinfacheren zurück. Die Lehrer hielten es für Fleiß, einige für Begabung. In Wirklichkeit waren es Einsamkeit und Verzweiflung. Es war gut, daß es diese Sprache zu lernen gab. Ich wage nicht daran zu denken, was sonst geschehen wäre.
Der Krieg, den ich gegen den Erfolg führen sollte, begann mit einer harmlosen kleinen Episode. Beatriz Sandoval, die ich nur einmal die Woche hatte, fing mich eines Tages nach dem Unterricht ab und zeigte mir einen längeren Brief eines Verlags, der noch am selben Tag ins Deutsche und Französische übersetzt werden mußte. Die zuständigen Übersetzer waren nicht zu erreichen. Ob ich mir das zutraue? Ich setzte mich in ein Büro mit lauter Wörterbüchern. Beim abschließenden Durchlesen der Texte fiel mir auf, daß der Schlußabsatz ironisch, im Deutschen geradezu sarkastisch klang. Das paßte nicht zum Ton des übrigen Briefs. Ich sah nach: Es lag daran, daß ich einige wenige Worte aus Versehen nicht übersetzt hatte. Auf dem Heimweg trank ich vor dem Inca de Oro einen Kaffee, es war kurz nach Weihnachten, und das Thermometer zeigte über dreißig Grad an. Wie groß die Wirkung sein konnte, wenn man beim Übersetzen einige Worte vergaß! Ich spann den Gedanken weiter: Was für eine Macht ein Übersetzer oder Dolmetscher hätte, wenn er gezielt einiges verschwiege oder die Worte gar verfälschte ! Er könnte Herr werden über ganze Verhandlungen, geschäftliche und gerichtliche, er hätte es in der Hand, wie sich Stimmungen, Situationen, ganze Beziehungen zwischen Menschen entwickelten. Und, dachte ich schließlich, er vermöchte unter Umständen, Erfolg in Mißerfolg zu verwandeln und Mißerfolg in Erfolg.«Lautlose Sabotage», lachte Juan, der Kellner. Weiter geschah nichts.
In der nächsten Zeit erhielt ich von der Schule
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