Der Klavierstimmer
wie an einen schützenden Verband über einer tiefen Wunde. Ich weiß nicht mehr, wie ich in mein Zimmer gekommen bin. Auf dem Bett preßte ich das Gesicht ins Kissen, bis ich fast erstickte.
Sie hat es mit Würde getan, Vater, das sollst du wissen. In ihren letzten Handlungen war nichts von der gewohnten Zerstreutheit. Sogar die Haare hat sie noch gewaschen. Mit erschöpftem Gesicht lag sie auf dem frisch bezogenen Kissen, unwiderruflich still. Über den Arm war ein Tuch gebreitet. Darunter lag die Spritze, die ihr aus der Armbeuge geglitten war. Bis zum Schluß wollte sie es verbergen. Und wußte immer, daß wir es wußten.
Es war, wie gesagt, keine Überraschung. Aber ich werde ein Leben lang brauchen, um den Schrecken, in den das Warten auf ihren Tod eingehüllt war, zum Schweigen zu bringen.
Die Tonkassetten beginnen sich zu stapeln. Musik von dreißig Jahren. Im Dezember geht Juliette nach London, um am Meisterkurs eines englischen Pianisten teilzunehmen. Wenn die Zeit nur reicht, um auch die restliche Musik aufzuzeichnen! Ich möchte jeden einzelnen, auch den unbedeutendsten Ton festhalten, den Vater mit der alten, kratzenden Feder aufgeschrieben hat. Nur wenn ich das tue und im stummen Zwiegespräch mit ihm darauf bestehe, daß er jeden dieser Töne liebte, vermag ich das Bild des toten Klavierstimmers auszuhalten, wie es sich mir damals, als draußen der neue Tag heraufdämmerte, unauslöschlich einprägte.
Vaters erste Oper war die Vertonung von Jean Anouilhs Stück Le voyageur sans bagage. Es hat mich erschreckt, daß ich das erst entdecken mußte. Jeden anderen Opernkomponisten hätte ich gefragt , was seine erste Oper gewesen sei; in gewissem Sinn ist sie schließlich die wichtigste. Vater habe ich nie danach gefragt. Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen!
Sofort, als käme es jetzt auf Minuten an, fuhr ich los und besorgte mir den Text. Ein französischer Kriegsgefangener - so die Geschichte - findet sich im Jahr 1918 auf einem Bahnhof in der Heimat wieder. Alle Erinnerung ist ausgelöscht, sein Gedächtnis ist vollständig leer. Im Asyl, wo man ihn aufnimmt, fühlt er sich wohl und unternimmt nichts, um seine Vergangenheit wiederzufinden. Achtzehn Jahre später trifft er auf eine Familie, die ihn als Sohn beansprucht. Was ihm, Schicht für Schicht, über die ersten achtzehn Jahre seines Lebens offenbart wird, entsetzt ihn. Was für eine Kluft zwischen dem, was er zu sein wünschte, und dem, was er wirklich war!
Kaum hatte ich die Eingangsszene gelesen, fiel mir ein, wie fasziniert Vater war, wenn er von einem Gedächtnisverlust hörte. Erst jetzt begreife ich: Für ihn, der das Gepäck seines ruhelosen Gedächtnisses mit sich schleppte, muß der Zustand jenes Soldaten Gegenstand der Sehnsucht gewesen sein. Mit Texten ist Vater von Anfang an freizügig verfahren. Die Ankunft am Bahnhof ist bei Anouilh nur eine Rückblende von wenigen Worten, bei Vater ist es der szenische Auftakt. Pikkoloflöte, Zimbel, Triangel und Harfe schaffen eine leichte, heitere Atmosphäre. Dazu Vaters Regieanweisungen: vollständig leerer Bahnhof, Licht des frühen Morgens. Was für eine Befreiung ist der Verlust der Vergangenheit!, ist die erste große Arie des Soldaten in hellem C-Dur. Es sind Vaters Worte. Anouilhs Worte kommen erst später: J’étais si tranquille à l’asile … Ich war an mich gewöhnt und kannte mich gut - und nun muß ich mich verlassen, ein anderes Selbst finden und es anziehen wie eine alte Weste. Später, als ihn die Vergangenheit einholt, werden die Klänge dunkler und angstvoll. Die schlimmste Entdeckung ist, daß der Soldat als Junge seinen besten Freund aus Eifersucht zum Krüppel gemacht hatte. Vater gibt dieser Episode sehr viel Raum, und für eine Weile habe ich mich gefragt, ob das etwas zu bedeuten hat. Doch dann haben mich andere Dinge gefangengenommen, vor allem, daß er aus den Gedanken übers Erinnern, die Anouilh dem Soldaten eher nebenbei eingibt, musikalische Höhepunkte macht. Pflichten, Haß und Wunden … Was dachte ich denn, daß es sei, das Erinnern? singt der Soldat, und: Die eine Erinnerung finden heißt, alle finden; eine Vergangenheit erwirbt man sich nicht in Einzelteilen! Auf diese Weise hat die Oper zwar den Soldaten, aber noch mehr das Erinnern zum Thema. Auch wenn dieses erste Werk musikalisch ungelenk, naiv und stellenweise kitschig ist: Juliette mag es von allen am liebsten.«Kann ich ein Foto von deinem Vater haben?»fragte sie, als sie die Partitur
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