Der Klavierstimmer
hin und wieder kleine Übersetzungsaufträge. Als Gegenleistung bekam ich Einzelunterricht. Nach drei, vier Stunden am Tag, in denen ich gezwungen wurde, ständig spanisch zu sprechen, hatte ich ein Gefühl, als schwämme mein Gehirn im Schädel. Beatriz Sandoval, eine Frau von Mitte Fünfzig mit strengem Gesicht und strenger Frisur, war meinen Fehlern gegenüber unnachgiebig. «¡Imperdonable! » war ihr ungerührter Kommentar, wenn ich einen Fehler machte, der mir inzwischen eigentlich nicht mehr passieren durfte. Anfänglich hielt ich ihre barsche Art für ein Zeichen, daß sie mich nicht mochte. Doch allmählich begriff ich, daß sie mich, ganz im Gegenteil, zu ihrem Starschüler erkoren hatte und daß ihre Strenge ihrem Ehrgeiz als Lehrerin entsprang.
Ich wurde besser und besser. Inzwischen verstand ich die Sportreportagen im Radio auf Anhieb und hatte auch mit der saloppen Sprache in Kriminalfilmen keine Mühe mehr. Beatriz (ich nenne sie nur hier beim Vornamen, in Wirklichkeit war die sprachliche Oberfläche unserer Beziehung sehr förmlich) war herzkrank und mußte manchmal eine Woche aussetzen. Dann vermißte ich sie, und nicht nur wegen des Unterrichts. Das machte es später, als ich die Dinge in Unordnung brachte, schwierig.
Im Frühling des zweiten Jahres, als Lehrer für Deutsch und Französisch ausfielen, sprang ich für ein paar Wochen ein. Es war sonderbar, mit gerade zwanzig vor Leuten zu stehen, die zum Teil Jahrzehnte älter waren als ich. Was ich lernen mußte und bis zum Schluß nicht wirklich konnte: den Leuten ihr eigenes Tempo beim Suchen der richtigen Worte zu lassen. Einige wurden richtig wütend, wenn ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, den deutschen oder französischen Satz für sie zu Ende zu sprechen. Dann entschuldigte ich mich so wortreich, daß sie es übertrieben fanden. Sie konnten ja nicht wissen, wie sehr mir in solchen Momenten Maman gegenwärtig war; wieviel Kraft es kostete, gegen das Echo ihrer Erwartungen anzukämpfen. Den anderen ihr Tempo lassen: Erst Paco hat es mich gelehrt.
Gegen Ende des zweiten Jahres boten sie mir einen Vertrag an. Ich glaube, es war Beatriz, die es durchsetzte, daß ich Bewerbern mit Diplom vorgezogen wurde. Señor Ormazabal war ein bißchen erstaunt über die zögerliche Art, in der ich unterschrieb und ihm die Hand schüttelte. Ich glaube, er war sogar etwas gekränkt; schließlich hatte er mir mit der Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis geholfen. Wie konnte er ahnen, daß die feste Anstellung für mich zweischneidig war. Einerseits war es höchste Zeit, daß nun regelmäßig Geld kam; das Geld vom Sparkonto war aufgebraucht. Auf der anderen Seite wurde mit der festen Anstellung der bisherige, freischwebende Zustand beendet, der mir so wichtig gewesen war, weil er mir die Illusion gelassen hatte, ich könne jederzeit - sozusagen stündlich - zurückkehren.
Als ich mit dem Vertrag in der Hand auf die Calle Moneda hinaustrat, war plötzlich alles anders: Ich war nicht länger jemand, der sich nur vorübergehend, auf Abruf in dieser Stadt aufhielt; jetzt war ich ein richtiger Einwohner von Santiago, ein Einwohner mit Arbeit. Ich war hierher ausgewandert. Ganz freilich habe ich das nie glauben wollen. Beispielsweise hätte ich mir nun eine anständige Wohnung leisten können. Statt dessen bin ich in ein schäbiges kleines Appartement mit abgenutzten Möbeln gezogen, in dem die Heizung ständig ausfällt. Jedesmal, wenn ein Jahr zu Ende ging, habe ich mir vorgenommen umzuziehen. Jedesmal bin ich geblieben. Umziehen, Möbel kaufen - es schien mir zuviel Bindung an einen Ort, den ich einzig und allein deswegen gewählt hatte, weil er so weit entfernt war von deinen Partituren, Vater.
Den ersten Auftrag als Dolmetscher erhielt ich von der schweizerischen Botschaft. Es war im vierten Jahr meines Aufenthalts. Der Botschaft fehlten an diesem Tag die Leute, und ich wurde aufs Polizeipräsidium geschickt, wo drei Jugendliche aus der Schweiz einem Beamten in Operettenuniform gegenübersaßen, der seine Macht genoß. Die beiden Jungen und das Mädchen waren vom Süden her nach Santiago getrampt, und als sie bei einer Straßenkontrolle unsanft aus dem verrosteten Auto geholt wurden, fand man in ihrem Gepäck Kokain und Heroin, während der Fahrer sauber war. Die drei schworen Stein und Bein, daß sie mit dem Rauschgift nichts zu tun hätten. Der Fahrer, behaupteten sie, müsse ihre Taschen für den Fall einer Kontrolle als Versteck benutzt haben.
Soviel
Weitere Kostenlose Bücher