Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
geflohen. Was hätten wir anderes tun können? Doch ich weiß: Du hättest gewünscht, daß wir es gleichzeitig täten - daß wir in der Gleichzeitigkeit der Flucht eine letzte Gemeinsamkeit hätten, so daß sogar unsere abrupte Trennung noch eine Episode der Gemeinsamkeit wäre. So daß wir uns gar nicht wirklich trennten.
    Der Bahnsteig war menschenleer, als ich auf die erste S-Bahn wartete. Ich stand mit dem Rücken zur Treppe in einer Haltung der Abwehr, ich hatte Angst, du könntest plötzlich auftauchen. Später stieg ein Mann unseres Alters ein. In Gedanken legte ich dein Gesicht über seines und begann dich zu vermissen, mit jedem Schlag der Räder mehr. Um den Hals schien ich deinen weißen, glitzernden Schal zu spüren, der zum verhängnisvollen Band zwischen uns geworden war. Als am Bahnhof Wannsee der Zug einfuhr, der mich nach Paris bringen würde, kostete es mich alle Kraft einzusteigen und mich forttragen zu lassen.
    Auf der Reise sah ich immer wieder deine Arme vor mir, die sich zu mir ausgestreckt hatten, bevor dir klarwurde, was ich vorhatte. Es tut weh, dich zu umarmen, Patrice. Jedesmal enttäuscht man dich dabei, und jedesmal spürt man deine Enttäuschung. Du willst auf eine Weise gehalten werden, wie man niemanden halten kann - selbst wenn man ihn so fest in die Arme nimmt, daß man ihn fast erdrückt. Auch du selbst kannst einen nicht so halten - auch wenn du das glaubst. Man kann sich nicht in einem anderen verlieren. (Obgleich man davor Angst haben kann.)
    Ich fuhr in eine Stadt, die einmal auch deine war: die erste fremde Stadt, die wir als Kinder zusammen entdeckten. Während du ans andere Ende der Welt geflüchtet bist, wo ich nie hinkommen werde, in eine Sprache hinein, die ich nicht verstehe, bin ich in die Stadt unserer damaligen Entdeckungsreisen gefahren, um sie jenseits der Erinnerungen zu meiner Stadt zu machen. Ich weiß nicht, welches der schwerere Schritt ist.
    Wie schwer meiner sein würde, spürte ich, als die Geleisestränge draußen immer breiter wurden und den Gare de l’Est anzeigten. Jetzt, wo ich noch sehr verletzlich war, weil ich hier noch keinen einzigen eigenen Schritt getan hatte, würde ich unter der Stadt, die von unseren Erinnerungen übersät war, buchstäblich hindurchtauchen müssen. Ich fuhr mit der Métro zu derjenigen Endstation, zu der wir als einziger nie zusammen gefahren sind: Villejuif-Louis Aragon . Dabei betrachtete ich den Linienplan: Wie wichtig waren dir die Namen der Stationen gewesen! Ich hörte, wie du sie aussprachst: Porte des Lilas, Alexandre Dumas, Les Gobelins … Wie enttäuscht konntest du sein, wenn es draußen dann grau war und ohne den Glanz, den die Namen verheißen hatten!
    Als sie mir in der erstbesten Pension, die billig genug aussah, den Zimmerschlüssel gaben, kam ich mir vor wie jemand, der sich nach einem Verbrechen in einer anonymen Unterkunft verkriecht. Den ersten Abend und die erste schlaflose Nacht, die voll waren von der Marseillaise und dem sonstigen Festlärm des 14. Juli, erlebte ich als ein einziges Stemmen gegen die Versuchung, dich anzurufen. Erst als die magischen vierundzwanzig Stunden verstrichen waren, seit ich die Haustür zugezogen hatte - erst dann, mit dem Puffer von einem Tag und einer Nacht zwischen dir und mir, wurde es leichter, jeden Tag ein bißchen mehr.

    Wieder hat das Telefon geklingelt. Ich habe es sofort leise gestellt. Um diese Zeit kann es nur Stéphane sein.
    Ich habe ihn von Tegel aus angerufen um zu sagen, daß ich komme. Als ich wählte, schien es das Natürliche zu sein, etwas, das zu meinem Leben hier gehört. Erst als ich seine Stimme hörte, spürte ich plötzlich, daß etwas nicht stimmte. Nicht mit ihm. Mit mir. Nein, ich wolle nicht abgeholt werden, sagte ich zu meiner Überraschung. Eine Weile herrschte Stille.«Rufst du mich an?»fragte er. Ja, sagte ich, das würde ich. Und nun habe ich wieder nicht abgenommen.
    Was ist geschehen? Ist es nur dieses: daß ich in meinem Erinnern nicht unterbrochen werden will, weil es eine Möglichkeit ist, bei dir zu sein, eine Form deiner Gegenwart, die mich nicht bedrängt? (Wenn ich wüßte, daß du es bist, der anruft, würde ich auch nicht abnehmen.) Oder hat es nichts mit dir zu tun? Ist in diesen beinahe zwei Wochen, die wie eine Ewigkeit waren, noch etwas ganz anderes mit mir geschehen?

    In der ersten Zeit kämpfte ich gegen die Vertrautheit, mit der Paris überzogen zu sein schien wie mit einem Schleier (oder einer Farbe, die durch alle

Weitere Kostenlose Bücher