Der Klavierstimmer
aus Spitze gedacht haben, denen für immer diese besondere Bedeutung anhaften wird. Meinen Tränen ließ ich erst im Flugzeug freien Lauf. Es waren Tränen der Trennung, aber auch Tränen des Mitleids mit dem Verlassenen, und nicht zuletzt waren es Tränen der Wut darüber, daß du es mir mit deinem Gesicht, das im Schmerz erstarrt war, so schwer gemacht hattest.
Während die Maschine über Berlin aufstieg, durchlebte ich noch einmal unseren ersten Abschied vor sechs Jahren. (Es würde mich nicht wundern, wenn du die genaue Anzahl der Tage wüßtest, die seither verflossen sind.) Ich sah das fahle Licht vor mir, das ins Zimmer fiel, als ich an jenem Morgen aufwachte. Noch heute bin ich verwundert über die innere Klarheit, die ich beim Aufstehen empfand. Ich hob das Kleid auf, in dem ich getanzt hatte, die Spitzenhandschuhe und die Schuhe, von denen ich einen auf der Tanzfläche verloren hatte. Noch einmal spürte ich, wie du dort meinen Fuß hieltest. Und nun lagst du da, den einen Arm vor dem Gesicht, wie um dich zu schützen. Ich ging ins Bad und packte dann die Reisetasche. Es war keine Hast in dem, was ich tat; aber ich verlor keine Zeit. Von meinem Zimmer habe ich gar nicht richtig Abschied genommen; später, im Zug, war ich darüber verwundert.
Als ich wieder zu dir ins Zimmer trat, hattest du den Arm vom Gesicht genommen. Deine Lider bewegten sich unruhig, als ob du heftig träumtest. Es war inzwischen noch keine Stunde vergangen. Doch das hatte genügt, um eine erste, zuvor nie gekannte Empfindung vollständigen Getrenntseins entstehen zu lassen. Ich wußte nicht, was grausamer war: dich zum Abschied zu wecken oder ohne ein Wort zu gehen. Schließlich setzte ich mich auf den Bettrand und betrachtete dein schlafendes Gesicht. Jetzt war es wieder das gewohnte Gesicht, das Gesicht meines Bruders. Das Gesicht in der Nacht - ich habe es nicht vergessen. Ich brauche es in meinen Gedanken auch nicht zu meiden. Ich denke einfach nicht daran. Nicht, weil es mich erschreckt hätte, oder abgestoßen. Nur war es sehr fern in seiner erregten Nähe - das Gesicht eines Fremden.
Lange Zeit habe ich gedacht, daß es vor allem dieser Anblick war, der in mir fortwirkte und mich in der Gewißheit erwachen ließ, daß ich abreisen müsse. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, und der geringere. Es war Angst, die mich flüchten ließ. Angst wovor? Wir hatten ein uraltes Tabu gebrochen. Das wäre Anlaß gewesen für eine Empfindung der Schuld. Aber Angst? Ich war verwundert und bin es noch heute, daß mich kein schlechtes Gewissen quälte. Nein, darum war es nicht gegangen. Der Gegenstand meiner Furcht war etwas viel Bedrohlicheres gewesen: der Verlust meiner selbst. Unsere körperliche Getrenntheit, sie war die Garantie gewesen, daß wir trotz allem zwei waren; sie hatte gewirkt wie eine letzte Trennwand. In jener Nacht wurde auch sie noch niedergerissen, und obwohl ich es nicht weniger gewollt hatte als du, brach eine ungeheure Angst in mir auf, die Angst vor einer Entgrenzung, die der Vernichtung gleichkäme. Vielleicht war die Fremdheit, die ich in dein erregtes Gesicht hineinlas, ein Akt der Notwehr, der meine Grenzen wahren sollte. Ich weiß es nicht.
Ob du all das verstehen wirst? Kaum hattest du damals die Augen aufgeschlagen, erschien ein Lächeln auf deinem Gesicht, aus dem man die Erinnerung an die Nacht herauslesen konnte. Glück und Scheu mischten sich in diesem Lächeln, und aus deinen Augen sprach die bange Frage nach meinen Empfindungen. Bei jedem anderen Mann hätte mir dieses Lächeln gefallen. Dein Gesicht jedoch wurde mir dadurch noch einmal fremd. (Vielleicht, weil darin nichts zu erkennen war, was meiner Angst entsprochen hätte; weil du mich mit dieser Angst allein ließest; doch auch das weiß ich nicht.)
Du mußt mir diese Empfindung angesehen haben, denn deine Augen wurden dunkel vor Erschrecken. Du hattest begriffen, daß ich gehen würde. Ich hatte mir Worte zurechtgelegt, während ich packte, doch deine erschrockenen Augen löschten sie aus, so daß ich nur Adieu zu sagen vermochte. So hatte ich dieses Wort zuvor noch nie gesagt, und es dauerte viele Monate, bis der Schmerz aus ihm gewichen war und ich es wieder unbefangen benutzen konnte. Daß ich auf deine stumme Frage nach meinem Reiseziel nur den Kopf schüttelte - nie hat mich etwas mehr Anstrengung gekostet. Ich kann dich nicht weinen sehen, Patrice, und so vollzog ich den Abschied schließlich mit geschlossenen Augen.
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