Der Klavierstimmer
Konferenz als Simultandolmetscher eingesetzt wurde. Aber ich hatte, wie sich zeigen sollte, viel zuwenig Abstand zu den Leuten und zu meinen Gefühlen.
Es war ein international besetztes Forum, auf dem über Wirtschaftsfragen der Dritten Welt gesprochen wurde. Ich war zuständig für die Teilnehmer französischer Zunge. Bis zur Pause lief alles glatt. Tagelang hatte ich den besonderen Wortschatz für dieses Thema studiert, und die Worte kamen. Allerdings war ich von der ungewohnten Anstrengung zittrig, und als mich beim Buffet jemand aus Versehen anrempelte, so daß mir der Orangensaft aufs Hemd schwappte, merkte ich an meiner heftigen Reaktion, daß ich aus dem Lot war. Dann kam der Beitrag von Señor Valdivieso. Um das zu sagen, was er wollte, hätte er den Namen Pinochets nicht zu nennen brauchen. Aber er nannte ihn. Das löste zunächst ein Streitgespräch zwischen Mercedes’ Vater und einem anderen Chilenen aus, in dem die Wucht der Gefühle spürbar wurde, obgleich die Form gewahrt blieb. Nur als das Wort vom Handlanger Pinochets fiel, sah es einen Moment lang so aus, als verlöre Señor Valdivieso, ein Mann von imponierender Statur und äußerst kultiviertem Benehmen, die Fassung. Einen Moment lang schlug er die Hände vors Gesicht, und aus dem Kopfhörer kam heftiges Atmen. Dann war es vorbei.
In der Nacht danach, als ich keinen Schlaf finden konnte, spürte ich mit aller Klarheit, daß ich, statt der neutrale Übersetzer zu bleiben, in jenem Augenblick für Mercedes’ Vater Partei ergriffen hatte. Auch gegen seine Tochter. Oder vor allem gegen sie, denn am Tag zuvor hatten wir uns wegen Paco wieder einmal in den Haaren gelegen. Und so spürte ich Hitze im Gesicht, als sich am nächsten Tag ein Teilnehmer aus Genf, den ich am Tonfall erkannte, an Señor Valdivieso wandte und ihm vorwarf, an seinem Kupfer klebe Blut. Mercedes’ Vater starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin, als er meine Worte hörte. Die Sekunden verrannen. Andere Teilnehmer schüttelten nur den Kopf.
«Mein Kupfer … ich … das ist ungeheuerlich», sagte Señor Valdivieso leise und wiederholte:«Ungeheuerlich.»
In meinen Ohren klangen seine Worte hilflos, und ich glaube, es tat mir einfach weh, daß dieser Mann nicht zu einem Gegenschlag ausholte. Und so tat ich es.
«An meinem Kupfer klebt weniger Blut als an Ihrem Gold», sagte ich.
Was danach geschah, weiß ich nur aus der Presse, denn ich verließ das Gebäude noch in derselben Minute. Die Schweizer Delegation hatte nach meinen Worten lautstark protestiert, es war zu einem Tumult gekommen, und die Sitzung wurde unterbrochen. Den Teilnehmern, die meine Worte nicht gehört hatten, mußte die Sache erklärt werden. Auch Señor Valdivieso. Durch den Konferenzteilnehmer, der für den Rest des Tages an meiner Stelle dolmetschte, erklärte er dem Mann aus Genf, daß es sich um eine unglaubliche Eigenmächtigkeit des Dolmetschers handle und daß er das jüdische Gold mit keinem Wort erwähnt habe, die spanischsprechenden Zuhörer könnten das bezeugen. Es half wenig. Die Atmosphäre blieb bis zum Ende gestört.
Es war das Ende meiner Arbeit als Dolmetscher. Berlitz feuerte mich noch am selben Tag. Ich hätte Beatriz Sandoval, die so viel für mich getan hatte, gern einige Worte der Entschuldigung und auch der Erklärung gesagt, doch sie war für mich nicht zu sprechen. Mein Brief blieb unbeantwortet.
Es war auch das Ende meiner engeren Beziehung zu Mercedes. Eine Beziehung, mit der ich mir Mühe gegeben habe, immer wieder, ohne daß ich sie je verstanden hätte. Die Arbeit als Krankenschwester und Sozialarbeiterin ist ihre Art, den Protest gegen das Elternhaus zum Ausdruck zu bringen. Auch ihre Kleidung wählt sie entsprechend. Das einzige, was sie verrät, sind die besonderen Schals und die teuren Ringe. Es hat nach der ersten Begegnung auf Pacos Spielplatz mehr als ein Jahr gedauert, bis sie das erste Mal über Nacht blieb. Mit der größten Selbstverständlichkeit verließ sie meine Wohnung am nächsten Morgen als unabhängige, von mir ganz getrennte Person, jemand mit eigenen Interessen, die ich bis heute nicht alle kenne. Was sie nicht ertrug: wenn ich aus dem Bedürfnis nach Nähe ihre Gedanken zu erraten versuchte. Hatte sie mich wieder einmal zurechtgewiesen, zog ich mich für Wochen zurück. Sie tat nichts, um mich zurückzugewinnen. Sie konnte sehr gut ohne mich sein.
Auch ich verweigerte etwas: Musik. Das begehrte Abonnement für die Oper war das einzige, was
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