Der Klavierstimmer
Mercedes von ihrer Mutter annahm. Ich ging kein einziges Mal mit. Und ich tat etwas, was mir manchmal wie ein Fortschritt erschien und manchmal wie ein Exerzitium, das ich mir nicht glaubte: Ich beschloß, ihr meine undurchsichtige Abwehr nicht zu erklären. Eine Beziehung zu einer Frau, in der es eine solche Weigerung gäbe, hatte ich mir bis dahin nicht vorstellen können. Ich war erstaunt, verletzt und später erleichtert, daß ich sie damit nicht kränkte. Daß es tatsächlich so sein könnte, habe ich bis zum Schluß nicht wirklich glauben können.
Es war unmöglich, ihr die Episode auf der Konferenz zu erklären. Nicht daß ich die Todsünde des Dolmetschers - die bewußte Wortfälschung - begangen hatte, war für sie das Schlimme. Was sie fast ersticken ließ vor Zorn, war, daß ich ihrem Vater Worte in den Mund gelegt hatte, die an ihm hängenbleiben würden, wenn auch nur so, daß man sie als etwas zitierte, das richtigzustellen war. Plötzlich war ihr Vater jemand, der makellos bleiben mußte. Nur sie habe das Recht, ihn zu kritisieren, nur sie!, schrie sie mich an, als sie mein verwundertes, ironisches Gesicht sah. Wie hätte ich ihr erklären können, daß meine Entgleisung dem Wunsch entsprungen war, Señor Valdivieso zu verteidigen, und nicht zuletzt gegen sie!
Ich habe mir nie verziehen, daß ich ihr von dir erzählte, Patty. Nicht alles, natürlich. Aber ich habe von unserer großen Nähe gesprochen. Dinge, die ich sonst nur Paco, dem schweigsamen Begleiter, anvertraute. Als sie mir den Schlüssel zurückgab und ich ihr im Treppenhaus nachblickte, war das die schlimmste Empfindung: daß sie das Wissen um unsere Liebe mit sich forttrug. Es war, als würde diese Liebe dadurch weniger.
An jenem Tag fuhr ich zum Bahnhof und versuchte, dein Lachen doch noch wiederzufinden. Der Bahnhof von Santiago nämlich ist der Ort, an dem ich dein Lachen verlor.
Es war an einem Wintertag im Juli des zweiten Jahres, die verschneiten Kordilleren ragten gestochen scharf in einen klaren, windbewegten Himmel hinauf. Wieder einmal hatte es mich zum Bahnhof getrieben. Er ist der verlassenste Ort, den ich kenne, eine gespenstisch stille Halle mitten in Markttrubel und hektischem Verkehr. Zweimal am Tag kommt ein Zug an, zweimal fährt einer ab: der eine nach Norden, der andere nach Süden. Zu den übrigen Zeiten keine Menschenseele. Ich kaufte eine Bahnsteigkarte und setzte mich auf dem Perron auf die einzige Bank. Da geschah es: Ich war mir plötzlich nicht mehr ganz sicher, wie dein Lachen klang. Es war das erste Mal, daß ich den Eindruck hatte, etwas, was dich betraf, vergessen zu haben! Der Schweiß brach mir aus, es war ein Gefühl, wie wenn man in einer Felswand den Halt verliert. Hastig holte ich das Bild von dir hervor, es entglitt meinen fahrigen Händen, und als ich es aufhob, knickte es an der einen Ecke ein. Verzweifelt versuchte ich, das ernste Gesicht zwischen den weißen Handschuhen zum Lachen zu bringen, und konzentrierte mich mit aller Macht auf mögliche Klänge. Für Augenblicke war ich wieder sicher, doch gleich danach bröckelte die Gewißheit, fiel in sich zusammen und ließ mich mit der Empfindung zurück, nicht nur dein Lachen, sondern dich insgesamt verloren zu haben. Bis zu dem Tag, als mir Mercedes den Schlüssel zurückgab, habe ich den Bahnhof nie wieder betreten.
Auch an jenem Tag habe ich vergeblich nach deinem Lachen gesucht. Und jetzt war es noch schlimmer als beim erstenmal. Denn auf dem leeren Perron dachte ich an die Erzählung eines chilenischen Autors mit dem Titel: Juanita, su fantasma . Sie handelt von Ramóns Empfindungen beim Abschied von Juanita. Er sieht ihr nach, wie sie die lange, schnurgerade Straße entlanggeht und immer kleiner wird. Jeder Meter, den sie geht, tut ihm weh, denn es ist ein Meter, den sie ein zweites Mal wird zurücklegen müssen, bevor sie wieder bei ihm sein kann. Wer weiß, wann das sein wird und was bis dahin alles geschehen kann. Jetzt ist sie nur noch ein Punkt am Horizont. Dann nichts mehr. Der Augenblick, in dem sich das Gesichtsfeld hinter ihr zu einer Fläche schließt, in der sie nicht mehr vorkommt, ist wie eine Vorahnung des Todes.
Und nun geschieht etwas Seltsames: An die Stelle der gesehenen, wirklichen Gestalt tritt die Vorstellung von ihr, eine Vorstellung, die Ramón nicht beschreiben könnte, die er aber ganz genau kennt, genauer sogar als jede wirkliche Gestalt. Das muß er auch, denn da Juanita nicht mehr da ist, ist die Vorstellung
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