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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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anderen Farben hindurchleuchtete). Mit aller Macht versuchte ich, die Stadt zu einer fremden Stadt zu machen, die ich - ich allein - mir erobern könnte. Ich versuchte sie zu reinigen, vor allem von Maman und GP. (Unsere Abkürzung für grand-père , tausendfach ausgesprochen, sieht geschrieben komisch aus, nicht wahr?) Und auch von dir versuchte ich Paris zu reinigen, ja, auch von dir. (Nicht von Papa; er schien, obwohl er genausooft dort war wie wir anderen, in Paris nie angekommen zu sein.)
    Oft war ich erschöpft von diesem krampfhaften Versuch, und dann geschah etwas Sonderbares mit meinem Französisch: Obwohl eine unserer Muttersprachen, erschien es mir mit einem Male fremd und voller grammatikalischer Tücken, wie etwas, dessen man nie wirklich mächtig sein konnte, und ich war verwundert, daß ich die Botschaften verstand, die in diese verwickelten Ausdrucksformen gekleidet waren. Vielleicht, dachte ich in jener Zeit, erging es mir jetzt ähnlich wie Papa, wenn er plötzlich herumstotterte, als habe er gerade die ersten Lektionen hinter sich. In solchen Momenten vermißte ich ihn sehr. Ich sprach langsam wie ein Bauernkind aus einem fernen Alpental, ein trotziger Tölpel, der auch sonst darauf bestand, sich in der geschliffenen Welt nicht auszukennen.
    Die Zeit verstrich, und durch ihr bloßes Verstreichen schuf sie - ob ich es wollte oder nicht - eine neue Wirklichkeit ohne dich. Ich versuchte, an Dinge in mir anzuknüpfen, von denen du nichts wußtest. Zunächst dachte ich, es seien nur wenige Dinge und ich würde lange nach ihnen suchen müssen. Doch nach und nach wurde mir mit Staunen bewußt, wieviel es war, was ich an Gedanken und Gefühlen vor dir verborgen hatte, so daß es mit deiner Sucht nach Gemeinsamkeit und Gleichklang nie in Berührung gekommen war. Ich hatte es nicht mit Absicht verborgen. Das hätte bedeutet, dich zu betrügen, und so etwas war undenkbar. Es kam mir vor, als habe eine schützende Instanz ohne mein Zutun dafür gesorgt, daß sich ein Teil meines Inneren dem Sog deiner vereinnahmenden Gegenwart entzog.
    In jener Zeit begann ich, ein Tagebuch zu führen. Als ich es soeben nach langer Zeit aufschlug, überraschten mich die ersten Sätze. Sie sind an dich gerichtet: Ich weigere mich zu glauben, daß nicht auch du viele Dinge für dich behalten hast. Es gibt also nicht den geringsten Grund für ein schlechtes Gewissen. Wie hast du es bloß erreicht, daß ich mich sogar jetzt, wo die Trennung vollzogen ist, noch schuldig fühle angesichts von Erfahrungen, die ich dir verschwieg? In der nächsten Eintragung versuchte ich es mir zurechtzulegen: Du hast das Verbot der Abgrenzung, das Maman dir einpflanzte, an mich weitergegeben. Meine damalige Handschrift kommt mir ungelenk und fast noch kindlich vor, sie paßt nicht zu der Einsicht, die sie festhält. (Einmal, wir werden dreizehn oder vierzehn gewesen sein, sagtest du, wie schön es wäre, wenn sich unsere Handschriften voneinander in nichts unterschieden. Du sagtest es in scherzhaftem Ton und verbandest es mit der Vorstellung eines Verwirrspiels den Lehrern gegenüber. Trotzdem erschrak ich.)
    Ich ging damals viel ins Kino. Nicht der Zerstreuung wegen oder weil mich die Geschichten anzogen. (Im Gegenteil: Am Anfang war ich ganz ausgefüllt von meiner eigenen Geschichte, geradezu trunken.) Was ich stets von neuem suchte, war eine Erfahrung, die ich einige Monate zuvor in Berlin gemacht hatte, als ich zum erstenmal ohne dich ins Kino ging.
    Es war eine Sensation und kam mir wie ein Verbrechen vor, als ich eine Karte für mich allein kaufte. In den ersten Minuten fühlte ich mich allein vor der Leinwand schutzlos. Dein Arm lag nicht auf meiner Lehne. Es war unglaublich: Wir sahen die Bilder nicht zusammen . Diesen Gedanken habe ich während des Films Hunderte von Malen gedacht. Während der anderthalb Stunden in jenem dunklen Raum vollzog sich etwas Unerhörtes: Ich begann, mich von dir zu lösen. In den ersten Minuten überlegte ich, wie ich dir die Bilder - die ungewöhnlichen Farben, die gelungenen Schnitte - später erzählen könnte. Noch hatte der Gedanke, daß es besser war, damit allein zu bleiben, nicht die Kraft, sich in mir auszubreiten. Dann kam im Film der erste dramatische Wendepunkt. Das Geschehen nahm mich vollkommen gefangen. Meine vorweggenommene, an dich gerichtete Erzählung wurde von den Bildern überrannt. Ich erlebte die Szene ganz allein. Noch nie hatte mich eine Szene mit solcher Macht in ihren Bann geschlagen,

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