Der Klavierstimmer
hinzugefügt.
SANTIAGO, CHILE - als ich diese Wörter las, war mir sofort klar, daß die riesige Entfernung das schreckliche Ausmaß deines Schmerzes zum Ausdruck brachte. Der Name des fernen Ortes war wie ein Aufschrei, und es kamen mir die Tränen. Es waren indessen auch Tränen der Wut. Wut über das Pathetische deines Tuns. Ein Ort am anderen Ende der Welt hatte es sein müssen. Wie üblich - sagte ich zu dir - hast du übertrieben in deinem Hang zum Melodramatischen, den du von Maman aufgesogen hast wie durch Osmose. Irgend jemand sollte es heroisch finden. Oder genügte es, daß du selbst es so fandest? Du wußtest, daß ich das Irrsinnige an dieser Wahl richtig zu lesen verstand. Du wußtest, wie mich die Botschaft treffen würde. Die Kunst der stummen Dramatik - ich kenne niemanden, der sie so virtuos beherrscht wie du, der Redegewandte.
Einen halben Tag lang bin ich durch die Straßen geirrt und habe mich verteidigt. Ich brauchte Zeit, sagte ich zu dir, ich brauchte einige Wochen Zeit und Stille. Ich brauchte Schutz vor dir und deinen Worten. Nach dem, was geschehen ist, hatte ich ein Recht darauf. Ich mache dir keinen Vorwurf, ich wollte es in jenem Moment auch, schon auf der Tanzfläche, als du meinen Fuß hieltest, spürte ich, daß ich es wollte, und vorher, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen, vielleicht wollte ich es auch da schon, jedenfalls wollte ich es auch, und überhaupt ist es keine Frage von Schuld, nur brauchte ich in den ersten Wochen Zeit, Zeit und Ruhe vor dir. Darauf hatte ich ein Recht.
Ich wollte dir meine Adresse schicken und wußte nicht wie. Mit welchen Worten sollte ich sie begleiten? Wenn ich überhaupt schriebe, so müßte ich erklären, warum ich es erst jetzt tat. Und die rechtfertigenden Worte, die ich auf der Straße und im Café vor mich hingemurmelt hatte, die konnte ich nicht aufschreiben, es waren Worte für ein Gespräch, ein Streitgespräch vielleicht, es waren nicht Worte fürs Papier, da würden sie falsch klingen, falsch und selbstgerecht und verletzend.
Und so schrieb ich dir nicht. Ich würde es tun, sobald dein erster Brief käme. Meine Adresse würde dir Maman schicken, dachte ich, so wie sie mir deine geschickt hatte. Es lag Ironie darin, daß ausgerechnet sie nun zum Bindeglied zwischen uns wurde, nachdem sie bis zuletzt gegen diese Bindung gekämpft hatte, wenn auch erfolglos.
Es kam kein Brief von dir. Ich stellte mir vor, du hieltest meine Adresse in Händen, um sie nach einer Weile aus Groll und Schmerz wegzuwerfen, da ich so lange gezögert und dann nicht einmal selbst geschrieben hatte. (Dabei lag sie jahrelang in verschlossenem Umschlag in deiner Schublade.) Diese Vorstellung mag mit ein Grund gewesen sein für das, was ich tat. Deine Karte blieb zwei quälende Monate lang liegen. Dann, kurz vor Weihnachten, habe ich sie vernichtet. Es war grausam. Es ist das Grausamste, das ich jemals getan habe. Viel grausamer noch als dich zu wecken, bloß um Adieu zu sagen.
Ich brauchte das mir Unbekannte an deinem Leben, um mich zu befreien. Ich brauchte das stetige, tägliche Anwachsen von Erinnerungen, die wir nie teilen würden. Meine Erinnerungen wuchsen an, und deine auch, und es waren nicht die gleichen Erinnerungen. Diesen Gedanken brauchte ich, ich brauchte ihn immer von neuem. Er wurde Bestandteil meines neuen Lebens in dieser Stadt. Er war Teil der Cité Vaneau im 7. Arrondissement, wo ich bei Madame Auteuil wohnte, er gehörte zu meinem Platz im Reisebüro, wo ich zu Beginn arbeitete, und später gehörte er zum Schneideraum und zu dem Café, wo ich mittags mein Sandwich aß. All diese Dinge bekamen ihre Wirklichkeit und Gegenwart durch den Gedanken an das Anwachsen von Erinnerungen, von denen du nichts wußtest.
Der erste Schimmer der Morgendämmerung erscheint über den Dächern. Die Augen brennen. Wie grausam es ist, was ich aufschreibe! Ich zögere lange, bevor ich harte Worte wie diese hinschreibe. Dann presse ich den Kopf in die Hände und denke an unsere Abmachung: daß es die Wahrheit sein soll, ganz gleich, wie groß der Schmerz sein mag.
Vorhin dann plötzlich der Gedanke: Mit dieser Offenheit gebe ich das Verschwiegene preis, das mir so wichtig war, um selbständig zu werden. Wie konnte ich meinen, daß diese Offenheit uns die Freiheit voneinander bringen könnte? Schafft sie nicht vielmehr eine neue Intimität, die uns aneinander binden wird, stärker noch als früher? Ich kenne mich nicht mehr aus.
Ich habe von unserer geplanten
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