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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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noch nie waren Filmbilder so tief in mich hineingesunken. Unsere Gemeinsamkeit, so dachte ich später, war wie ein Filter vor allem gewesen. Er hatte den Bildern im Film wie auch in der Wirklichkeit diese besondere Qualität des Geteilten verliehen, die süchtig machen kann, ihnen aber auch etwas von ihrer Unmittelbarkeit und Gegenwart nimmt - einer Gegenwart, die man nur allein erleben kann, weil das Alleinsein ein Bestandteil des Erlebens ist. Als der Film Atem holte, erwachte ich erschrocken aus meiner einsamen Gegenwart, erschrocken darüber, daß du mir nicht gefehlt hattest.
    Für den Rest des Films gab es in mir einen Widerstreit zwischen der Trauer darüber, daß in diesem dunklen, muffigen Kino eine neue Zeitrechnung begonnen hatte, und einem aufkeimenden, mit Macht sich ausbreitenden Empfinden der Freiheit, das mir in einer Mischung aus Schuld und Freude die Tränen in die Augen trieb. In stummer Verbissenheit verteidigte ich mich gegen den Schmerz auf deinem Gesicht, wenn du es erfahren würdest, ein Schmerz, der viel schlimmer sein würde als der heftigste Vorwurf (den du mir nie machen würdest). Über dieser Verteidigung, die gründlich war und umfassend, eloquent ohne Worte, verlor ich im Film den Faden, so daß ich nicht weiß, wie er ausgegangen ist.
    Die Kinokarte, die wir während der Vorstellung eingerollt zwischen den Fingern zu halten pflegten, um sie beim Ausgang mit scherzhafter Gleichzeitigkeit in den Abfallkorb fallen zu lassen - die Kinokarte zerriß ich dieses Mal mit einer nüchternen Bewegung und warf sie weg. Dann setzte ich mich in unser Café und weinte, als die Kellnerin, die uns immer bedient hatte, nach dir fragte.
    Erzählt habe ich ihn dir nicht, jenen Kinobesuch, mit dem ich unser bedingungsloses Bündnis verriet. Es kam heraus, als ich mich einige Tage später versprach. Du sagtest kein böses Wort, nicht einmal ein enttäuschtes, du sagtest überhaupt nichts. Nur deine Augen wurden dunkler. Weder nach dem Inhalt des Films fragtest du, noch nach den letzten Bildern, die uns bei jedem Film besonders interessierten und über die wir eine Theorie hatten. (Eine falsche übrigens, wie ich weiß, seit das mein Beruf ist.) Ich traute mich nicht zu fragen, ob wir uns den neuen Film von Chabrol ansehen wollten. Ich wußte, wie du warst: Du würdest mein verschwiegenes Handeln von neulich so auslegen, als wollte ich nun nie mehr mit dir ins Kino - so dumm, so kindisch, so fürchterlich verletzt konntest du sein. Erst viel später erfuhr ich, daß du am Tag danach in die erste Vorstellung gegangen warst und dir den Film, an dem ich unser Getrenntsein erprobt hatte, nun auch angesehen hattest. Dieselben Bilder sehen, die ich gesehen hatte: Es war dein verzweifelter Versuch, die Lücke zwischen uns zu schließen, die du plötzlich klaffen sahst. Es hat mich lange beschäftigt, daß du das tatest. Ich war gerührt, glaub mir, und habe dich dafür auch geliebt. Trotzdem begann ich mich verfolgt zu fühlen. Ich sah mir Filme am letzten Tag an, an dem sie liefen. Um mit ihnen allein bleiben zu können. Es begann ein stummer Kampf.
    All das durchlebte ich hier nun von neuem. Allein ins Kino gehen - es wurde zu einem Ritual der Loslösung und Verselbständigung. Es gab Zeiten, da ging ich jeden Tag, sogar mehrmals am Tag. Von jener befreienden Erfahrung konnte ich nicht genug bekommen, auch wenn sie sich abzunutzen und zu verblassen begann. (Einmal, da verkehrte sie sich sogar in ihr Gegenteil: Statt daß ich meine Freiheit genoß, vermißte ich dich während des ganzen Films und stellte mir gegen meinen Willen vor, du säßest neben mir wie früher und flüstertest mir ins Ohr. Danach ging ich eine Weile nicht mehr ins Kino.) Die einsame Beschäftigung mit Bildfolgen, Szenen und Schnitten, das schien mir ein Weg zu sein, in ein Leben hineinzuwachsen, das ganz allein meines war. So ist es denn kein Zufall, daß ich Cutterin geworden bin. Die Kollegen sind immer wieder erschrocken zu sehen, wie heftig ich werden kann, wenn man mich bei der Arbeit stört. Sie können nicht wissen, daß es dabei um sehr viel mehr geht als Ruhe. Manchmal ist mir, als übte ich drüben im Studio die Trennung von dir als Beruf aus.
    Als ich Maman nach drei Monaten meine Adresse mitteilte, schickte sie mir deine Karte, auf der die Adresse in Santiago stand. Dazugeschrieben hatte sie nichts. Die Karte trug ein Datum von Ende Juli und enthielt die Bitte, die Adresse an mich weiterzuleiten. Par exprès , hattest du

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