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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sie dem Zuschauer gegenüber eine Abgrenzung und wird durch das bildhafte Echo in ihren inneren Konturen eingekreist. (Natürlich stammt die Idee mit dem Echo aus der Musik.)
    Diese beiden Dinge beeindruckten Madame Bekkouche so sehr, daß sie eine berühmte Cutterin aus mir machen möchte (Vous aurez du succès extraordinaire, Mademoiselle Patricia, les réussites sont inévitables). Daher die Wohnung; zum Erfolg gehört die elegante Wohnung. Erst der Erfolg, dann die Wohnung, sagte ich. Aber Florence Bekkouche sieht das anders: Erfolgreich wird man dadurch, daß man sich erfolgreich gibt, voilà le truc .
    Ich will die Wohnung nicht, ich wollte sie von Anfang an nicht, ich will in meiner Dachwohnung mit den vielen schrägen Balken und dem Blick über die Dächer bleiben. Ich hatte gehofft, daß sich die Sache während meiner Abwesenheit erledigen würde. Aber heute morgen rief Madame Bekkouche an, ein bißchen ungehalten über mein Schweigen, aber immer noch überschwenglich, c’est une chance unique, Mademoiselle Delacroix. Ich lehnte ab. Sie war eingeschnappt und wandte sich an die Kollegen: Was mit mir los sei? Ich käme erst am Montag zur Arbeit, sagte ich dem Kollegen, der mir den Klatsch weitergegeben hatte. Dann zog ich das Telefon heraus und machte Papas Bücherkisten auf.

    Jeder würde es für ein Märchen halten, aber es ist wahr: Papa hat ein System von Erfolgen und Mißerfolgen entwickelt, eine regelrechte scholastische Theorie, in der es nicht weniger als achtundzwanzig verschiedene Arten gibt. Ich habe Stunden gebraucht, um dahinterzukommen, und noch kenne ich kaum die Umrisse dieser Gedankenwelt, in der es so umwegig und raffiniert zuzugehen scheint wie in der Kabbala.
    Zunächst fiel mir nur auf, daß es unter den Büchern, die zum großen Teil Musikerbiografien sind, kaum eines ohne farbige Unterstreichungen gibt. Nach einer Weile begann ich mich darüber zu wundern, daß Papa im Laufe der Zeit eine Unmenge verschiedener Stifte benutzt hatte, wenn ihm etwas wichtig erschienen war, und zwar auch Stifte in ungewöhnlichen Farben: helles, fast weißes Lila etwa, oder dunkles, fast schwarzes Olivgrün, oder ein rötliches Ocker. Nur langsam dämmerte mir, daß sich dahinter ein System verbergen könnte. Die farbigen Markierungen betreffen nämlich ausnahmslos Stellen, an denen von Erfolgen oder Mißerfolgen die Rede ist, die ein Komponist oder Werk erfahren hat. Der rauschende Premierenerfolg, das weiß ich bereits, ist (was sonst bei Papa!) weinrot. Das kann man an Verdis Nabucco oder an Salome von Richard Strauss ablesen. Ich holte den Farbenkreis und suchte die komplementäre Grünschattierung. Ich hatte richtig vermutet: Mit diesem Stift hat Papa angestrichen, wenn eine Oper bei der Premiere ausgepfiffen wurde, wie Rossinis Ermione oder Debussys Pelléas et Mélisande . Von da an wird es komplizierter. Wichtig war ihm natürlich, ob ein Werk, selbst wenn es zunächst abgelehnt wurde, später Anerkennung erfuhr (Traviata) , oder ob es für immer verschwand (Tschaikowskys Undine ). Das hat mit Blautönen zu tun, scheint mir. Die Frage, wie früh im Leben eines Komponisten der Erfolg kam, wird in Gelb dargestellt, wobei sich das leuchtendste Gelb bei Rossinis Tancredi findet. Andere Klassifikationen, wo mir die Übersicht noch fehlt, scheinen zu sein: Erfolg als Applaus des Publikums, Erfolg als Liebeserklärung berühmter Sänger an ein Werk, Erfolg als Lob aus der Feder der Kritiker, Erfolg gemessen an der Anzahl der Aufführungen, Erfolg gemessen am Geld, Erfolg in und außerhalb des eigenen Landes, Erfolg durch das Populärwerden von Melodien. Entsprechend die Mißerfolge, und dann wird es farbliche Nuancen für die Kombinationen solcher Werte geben. Weiter bin ich noch nicht vorgedrungen. Plötzlich war ich erschöpft, und als ich etwas essen wollte, merkte ich, daß mir schlecht war.
    Ich legte mich aufs Bett und dachte an die Zeit, als ich, noch ein kleines Mädchen, heimlich bei Papa im Arbeitszimmer war und er mir von seinen gesungenen Märchen erzählte. Als ich darin schon eine gewisse Erfahrung hatte (wie ich fand), machte ich hin und wieder selbst einen Vorschlag, wie die Geschichte weitergehen könnte. Wie stolz war ich, Papa, wenn du einen meiner Vorschläge übernahmst (oder doch so tatest als ob)! Warum hat dir das nicht genügt? Warum war es so wichtig, daß die Welt deine Werke beklatschte? Warum waren dir meine Liebe und Anerkennung nicht genug? Warum sollten andere applaudieren

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