Der Klavierstimmer
ihn immer, sommers und winters, er galt als dein Markenzeichen. Jetzt schlangst du ihn um mich. «Fanfaron» , sagte ich, bevor sich unsere kalten, zitternden Lippen vermischten. Es war das schönste Wort, das mir in jenem Augenblick einfiel.
Ich erwartete ein Kind von dir. Noch am selben Tag, an dem ich das Testergebnis bekam, rief Madame Auteuil, meine Wirtin, einen alten Freund an, einen Frauenarzt, der mich an einen jüngeren Kollegen vermittelte. Am nächsten Tag war ich bei ihm. Das Gespräch war kurz, von meiner Seite einsilbig, aber meine Auskünfte genügten ihm. Am Tag darauf erfolgte der Eingriff. Ich blieb eine Nacht dort und schlief schlecht. Für das Mittagessen saß ich bereits wieder in meinem Café in der Cité Vaneau. Die Wahrheit hat niemand erfahren.
Tagelang hatte ich mich auf das Erschrecken vorbereitet. Es setzte nicht ein. Vielleicht war es von der Vorbereitung aufgesogen worden. Unangenehm war, die Hände und Instrumente im Leib zu wissen, und es störte mich, daß ein Mann es machte. Aber so ging es am glattesten, deshalb hatte ich zugestimmt. Etwas blieb zurück, viel länger als ich dachte: Ich hatte keine Augen mehr für Männer. Ich lief nicht weg vor ihnen und empfand keine Feindseligkeit. Auch wäre es nicht genau, wenn ich sagte, daß sie mir gleichgültig waren wie Möbelstücke. Vielmehr war es so, daß sie alle gleich waren, grau, gestelzt und ein bißchen lächerlich mit ihren Bärten, Bäuchen und abgerissenen Jeans. Drei Jahre hat das gedauert, und unter den Kollegen, da bin ich sicher, kursierten Gerüchte.
Einmal habe ich geträumt, daß Papa davon wisse. Er sprach nicht zu mir, sondern zu einem Dritten, der Anklage gegen uns erhob.«Wenn es sie doch zueinander zog!»sagte er aufgebracht. Natürlich war es mein Wunsch, daß er das sagte. Aber er hätte es auch in Wirklichkeit sagen können. So war er. Ich habe den Traum aufgeschrieben und zu einer kleinen Geschichte ausgeschmückt. Es hat mir gutgetan.
In der Nacht zum 14. Juli denke ich regelmäßig daran. Es ist nicht immer gleich. Manchmal zieht es mich in den Jardin, manchmal ins Kino. Stéphane habe ich gesagt, ich möge den Rummel nicht und wolle allein sein. Aber der Rummel ist doch erst morgen, hat er eingewandt.
Nein, entsetzlich war es nicht. Aber ein bißchen anders wäre mein Leben schon, wenn diese Dinge sich nicht ereignet hätten.
Es gibt diese Wohnung: vier Zimmer, hohe Räume mit Stuckdecken, Kamin mit eingelassenem Spiegel darüber (gerahmt wie ein Gemälde), Fischgrätenparkett, goldene Türgriffe, altmodische Eleganz im Bad, perfekt ausgestattete Küche. Ein Traum von einer Wohnung in einer Seitenstraße vom Boulevard des Italiens. Sie ist mir von Madame Bekkouche angeboten worden, einer gebürtigen Algerierin, der das Studio gehört, in dem ich arbeite. (Sie ist selten da und versteht vom Schneiden nichts; aber es ist ihr Geld, und sie bestimmt, wer welchen Film bearbeitet.) Die Miete wäre lächerlich gering, das Angebot ist also persönlich gemeint.
Obwohl sie mich kaum kennt, hat sie den Narren an mir gefressen. Sie bekam zwei Filme in die Hände, bei denen ich den Schnitt besorgt hatte, und war von den beiden Dingen begeistert, mit denen ich mir hier so etwas wie einen Namen gemacht habe. (Zu meiner Überraschung, denn für mich war es - zunächst wenigstens - eine Spielerei, und außerdem bin ich sicher, daß andere das gleiche auch schon gemacht haben, es ist naheliegend, wenn man einmal begriffen hat, wie im Film Zeit definiert ist.) Sie hatte auch gleich Namen parat für die beiden Stilmittel. Das eine nennt sie (natürlich!) à bout de souffle . Im Grunde genommen sind es einfach Vorblenden. Ich streue in immer kürzer werdenden Abständen Bilder von dem ein, was noch nicht ist, aber demnächst sein wird, so daß sich der Bilderfluß auf einen bestimmten Punkt in der Zukunft zubewegt, ihm näher und näher kommt, bis die zuvor eingestreuten Bilder, die nur kurz aufgeblitzt waren, schließlich als ruhige, kontinuierliche Gegenwart ablaufen. Das erzeugt eine gewisse Atemlosigkeit. Die andere Sache nennt Madame Bekkouche l’écho visuel . Auch das ist etwas ganz Einfaches: Ich wiederhole bereits gezeigte Bilder und mache dadurch die besondere Bedeutung deutlich, die sie für eine Figur hatten. Raffiniert daran ist nur, daß es nicht die Bilder sind, die dem durchschnittlichen Zuschauer wichtig wären, sondern Bilder, deren Auswahl für diese besondere Figur typisch ist. Dadurch erfährt
Weitere Kostenlose Bücher