Der Klavierstimmer
setzte mich ans Wasser. Ich hatte das Gefühl, ich müsse das Leben für mich ganz neu erfinden, jede einzelne Bewegung darin, jedes Verharren, jedes Empfinden. Und neue Gewohnheiten brauchte ich, jede Menge neuer Gewohnheiten. Ich weiß noch, daß ich das Lachen der Kinder, und überhaupt das Lachen, aus der Einsamkeit heraus neu empfand. Zum erstenmal erlebte ich jene Form der Einsamkeit, die mir später lieb und teuer wurde: Sie ist voller Abschied und Trauer, zugleich aber auch voller Zukunft und Neugier. Überhaupt hat sie viel mit Zeit zu tun, diese - wie soll ich sagen - schöpferische Einsamkeit. Bisher hatte ich Zeit ja nur als etwas gekannt, das voll von deiner Gegenwart war. Jetzt war sie auf einmal nur noch meine Zeit, ganz allein meine. Ich konnte darin nach Belieben spazierengehen, im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Ich ging im Jardin über den Kies, einmal nach rechts, dann nach links, einmal schnell, einmal langsam, einmal hüpfte ich, dann wieder schlurfte ich - alles, wie ich gerade wollte. Mit jeder dieser winzigen, unbedeutenden Entscheidungen schuf ich mir meine Zeit, es kam mir vor, als spänne ich sie wie ein Garn, das in meinen Händen entstand, ohne daß da vorher irgend etwas, irgendeine Substanz gewesen wäre, eher schien es mir so zu sein, daß es aus dem leeren Raum herauswuchs, der sich in meinen Fingern auf rätselhafte Weise in Zeit verwandelte. Es war wunderbar, und immer wenn es mir später schlechtging, fuhr ich zum Jardin und versenkte mich in das rätselhafte, traumgleiche Garn der Zeit.
Mit niemandem habe ich seither dort gesessen. Auch mit Stéphane nicht, der den Ort liebt. Immer bin ich ausgewichen, wenn er es vorschlug. Einmal ging es nicht anders, wir mußten durch den Jardin hindurch, alles andere wäre ein unsinniger Umweg gewesen. Mein hastiger Schritt und die Weigerung stillzustehen haben ihn überrascht, ein bißchen auch verletzt. Er hat nicht gefragt und nichts gesagt. So ist Stéphane.
An diesen Ort also ging ich, um mich auf das Erschrecken vorzubereiten. Du Traumtänzer, dachte ich dort auf der Bank, warum hast du nicht aufgepaßt. Das ist albern, fiel ich mir ins Wort. Beide zusammen haben wir uns forttragen lassen von diesem Wunsch, der alles Bisherige mit so wunderbarer, unwiderstehlicher Logik besiegelte. Weder du noch ich haben Widerstand geleistet, als die Vertrautheit in Verlangen umschlug.
Wir haben nie darüber gesprochen, doch wir wissen beide, daß es einen Vorboten gab. Es war an einem Abend im Januar, als wir in Onkel Wanja gingen. Ich stand vor dem hohen Spiegel im Entrée und dachte gerade, daß der Kragen des neuen Mantels viel zu groß sei. Da sah ich dich herunterkommen in deinem wiegenden Gang, von dem du nichts zu wissen scheinst, obwohl darüber in der Schule manchmal getuschelt wurde. Du trugst das schwarze Veston über einem weißen T-Shirt, und um den Hals hattest du den weißglitzernden Schal geschlungen, der dir bis zur Hüfte hinunterreichte. Dein Schritt stockte, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen, es war ein Stocken wie bei einem Anblick, der in Verlegenheit bringt. Dann nahmst du einen neuen, erstaunten Anlauf des Sehens, und ein Lächeln erschien in deinen Mundwinkeln, wie ich es noch nie auf deinem Gesicht gesehen hatte. (Vielleicht liegt es am Spiegel, dachte ich, freilich ohne mir zu glauben.) Ich klappte den hohen Kragen herunter, den ich aufgestellt hatte, um die Frisur gegen Schnee und Wind zu schützen. (Ich habe keine Ahnung, warum ich das tat, ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung.) Dein Schritt war zögernd, als du hinter mich tratest, mir den Kragen sanft auf die Schultern drücktest, das Haar anhobst und den Nacken mit den Lippen berührtest, flüchtig, verstohlen, unsere Blicke trafen sich, wir mußten jetzt wieder zum alten Blick zurückfinden und taten es sehr schnell, du lachtest, dabei das Gefährliche an der Episode durchstreichend, abstreitend und doch auch aufbewahrend in diesem Lachen, ich werde es nie vergessen, dieses Lachen, mit dem du uns beide über den heiklen Moment hinübergerettet hast.
Ich weiß nicht, ob ich auch gelacht habe, es ist wie ein kurzer Filmriß, ich klappte den albernen Kragen wieder hoch, und dann waren wir draußen im Schneegestöber, du hast auf die Uhr gesehen und mich angetrieben wie jahrelang jeden Morgen, wenn wir zur S-Bahn hetzten. Diese Schulzeitgewohnheit, sie half uns (auch vor uns selbst) zu tun, als sei der Blick im Spiegel nicht gewesen, wir saßen in
Weitere Kostenlose Bücher