Der Klavierstimmer
er Angst, er könnte mit dem Schweiß, den er dabei stets an den Händen hatte, die Noten verwischt haben, und so zog er in Zukunft Handschuhe an. Nur hatte er jetzt das Gefühl, den vergessenen Melodien nicht nahe genug zu sein.
Und so weiter. Natürlich sprachst du dabei über dich, Papa - über einen, der du hättest sein können. Das wußten wir beide, und das war der bittere Ernst in dem Spiel, das wir stets von neuem genossen, besonders wenn ich dich der Widersprüche überführte und du daraufhin halsbrecherische Erzählmanöver vollführtest, um das Ganze wieder stimmig zu machen. Nie bin ich dir näher gewesen als in den Momenten, wo du die Geschichte von Cesare Cattolica immer weiter spannst und wir uns darin einwickelten.
Bald schon ist das erste Heft voll. Als ich einen Stapel dieser typisch französischen Hefte kaufte, sagte die Verkäuferin: «Ah, des cahiers d’élève.» Ihr Blick verriet, daß sie in mir die Mutter eines Erstkläßlers sah, die den Erfolg des Kindes dadurch zu sichern suchte, daß sie über einen Vorrat an Heften wachte. Vielleicht war es deshalb, daß ich mir wie eine Schülerin vorkam, die noch ganz am Anfang steht, als ich dieses erste Heft aufschlug. Ich fand dieses Gefühl reizvoll. Das überraschte mich.
Am Anfang fand ich es sonderbar, über Dinge zu schreiben, die wir gemeinsam erlebt haben. Was gab es da noch zu sagen, wo du doch ebensoviel wußtest wie ich? War mein Vorschlag des wechselseitigen Erzählens nicht unsinnig? Eine überflüssige sprachliche Verdoppelung unserer gemeinsamen Vergangenheit? Inzwischen verstehe ich meine Idee besser. Erfahrungen in Worte zu fassen, die unverrückbar dastehen, das ist ein Exerzitium der Abgrenzung. Es bedeutet, unsere wortlose Gemeinsamkeit zu durchbrechen, eine Gemeinsamkeit, die wir für so vollkommen hielten, daß sie ohne Worte auszukommen schien, sie war wie ein Heiligtum, an das man nicht rühren durfte, nicht einmal dadurch, daß man es benannte. Es war ein gefährliches Heiligtum, weil es das Verbot einschloß zu überprüfen, ob die inneren Uhren unseres Erlebens wirklich so zeitgleich liefen, wie wir glauben wollten, oder ob wir im Inneren längst nach verschiedenen Rhythmen lebten.
Doch es ist schwerer als ich dachte, unser Abkommen zu erfüllen. Schon bei den allerersten Worten habe ich es gespürt. Etwas hemmt meine Hand. Nicht, daß mir die Worte fehlten. Doch es sind nicht meine Worte, sondern deine. Ob ich Französisch oder Deutsch schreibe - stets habe ich das Gefühl, daß es deine Sprache ist, obwohl wir sie zusammen gelernt haben. Es ist dein Rhythmus, dein Atem in den Worten, nicht meiner. (Selbst Dupont in Französisch und Neuhaus in Deutsch fiel auf, wie sehr sich unsere Aufsätze sprachlich glichen. Wer von beiden da wohl das Sagen habe? Ein peinliches Schweigen in der Klasse, jemand kicherte. Mit keinem Wort haben wir über diese Episode gesprochen, damals nicht und auch nicht später.) Ginge es um etwas Beliebiges, so wäre das nicht von Bedeutung. Ich habe mich immer gern von deinen Worten, ihrer Melodie und ihrem besonderen Tempo tragen lassen. Jetzt jedoch, wo es darum geht, aus unserem gemeinsamen Leben unwiderruflich zwei getrennte Leben zu machen, muß ich mich von dir auch dadurch lösen, daß ich meine eigene Sprache finde. Nicht nur muß ich versuchen, einen inneren Abstand zu dir zu schaffen, indem ich erinnernd zu dem Erleben vordringe, wie es war, bevor es in Worte gefaßt wurde, die deine Worte waren. (Indem ich das Erleben gewissermaßen von dir reinige und es als etwas erkenne, das ganz allein meines war.) Auch die Worte müssen meine eigenen werden. Denn es ist ja doch keine Lösung, vor der Sprache in die Bilder zu fliehen, wie ich es in den ersten Jahren hier versucht habe. Das kommt einer selbstauferlegten Stummheit gleich, in der sich Unfreiheit spiegelt.
Doch wie macht man das: seine eigene Sprache finden, indem man sich gegen die sprachliche Übermacht eines anderen stemmt? Wenn der andere ein Feind ist oder jemand, den man verachtet, so mag es nicht so schwer sein: Man wird das Auffällige an seinem Wortschatz meiden und die Sätze betont anders bauen als er. Mit dir ist es viel schwieriger: Deine Worte, dein Tonfall - das sind Dinge, die mein bisheriges Leben durchzogen haben und die ich liebe. Ich will sie nicht ächten oder verleugnen. Ich will diese Worte weiterhin gebrauchen können, denn sie sind mir ja nicht von einem Diktator als etwas Fremdes aufgenötigt worden. Doch
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