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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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der S-Bahn wie Hunderte von Malen zuvor und taten, als sei es nicht wahr, daß zwischen uns mit einemmal alles anders war.
    Ich habe jenen Mantel nie mehr getragen. Damit ich deine Lippen nicht mehr auf meinem Nacken spürte. Eine Weile hing er noch im Schrank, dann brachte ich das einmal getragene Ding zum Roten Kreuz. Du hast mich mit der Tüte gesehen und kein Wort gesagt.
    Daß wir auch diesen gefährlichen inneren Schritt zeitgleich taten! Einen Tick nur, einen winzigen Tick, war ich früher (wie fast immer in solchen Dingen). Denn wäre da nicht schon etwas in meinem Blick gewesen, als du herunterkamst - ein Glitzern, eine Bereitschaft, ich weiß nicht -, du wärst heruntergekommen wie sonst auch, vielleicht hättest du eine spöttische Bemerkung über meine Haarspange gemacht (die du toc fandest und chiqué ), mehr nicht, du hättest nicht zugelassen, daß sich dein eigener Blick vor dem meinem entzündete, dafür war ich für dich zu …ich weiß nicht, jedenfalls hättest du das niemals zugelassen, nein, wir wären hinausgegangen wie sonst auch.
    Tschechows Stück war an jenem Abend anders als sonst. In uns beiden, denke ich, kreiste (wie das Licht eines inneren Leuchtturms) die Frage, ob wir unsere wechselseitigen Blicke aus Wunschdenken heraus mißdeutet hatten. Ich jedenfalls schloß während der Vorstellung stets von neuem die Augen und versuchte mit aller Macht, das genaue Bild von dir heraufzubeschwören, das ich gesehen zu haben meinte. Jedesmal, wenn ich es vor mir hatte, war ich mehr noch als beim vorigen Mal hin- und hergerissen zwischen den Deutungen. So saß ich neben dir, jede Berührung vermeidend, auch die harmloseste und zufälligste, und zwischen uns stand der Gedanke an die größte Nähe, ein Gedanke, der uns voneinander wegtrieb wie noch nie etwas zuvor, denn er war undenkbar.
    Eine neue Zeit hatte begonnen, ohne daß wir es uns eingestehen konnten. Wir hatten immer zu schweigen verstanden, besonders in Theaterpausen; für bildungsbürgerliches Geschwätz über Theater hatten wir nur Verachtung übrig. So schwiegen wir auch damals. Doch schien es mir nicht unser übliches Schweigen zu sein. Wir taten genau dasselbe wie immer; im Inneren aber war es ein anderes Schweigen. Auch an unseren Blicken war etwas anders. Eine neue Scheu und Zurückhaltung lag darin. Keiner wollte die unverfängliche Zärtlichkeit des Blicks wagen, die weit in die Kindheit zurückreichte. Wir wollten sie nicht riskieren aus Furcht, uns durch einen Blick zu verraten, in dem auch Verlangen gestanden hätte.
    Von jenem Abend an herrschte für ein halbes Jahr banges Warten und verleugnete Vorfreude. Wir wußten, daß es nicht passieren durfte und doch passieren würde. Auch in den Monaten, wo die Dinge ohne spürbares Gefälle auf das Verbotene zu verliefen und wo wir uns mit der gewohnten Vertrautheit begegneten - auch in jenen Monaten geschah etwas. Es war, als kochte die Zeit. Alles, was geschah, war von der erstaunten Wahrnehmung geprägt, daß die Versuchung sich so weit hatte zurückdrängen lassen.
    Und dann verlor ich auf dem Abiturball den Schuh. Ohne aus dem Rhythmus zu geraten, bücktest du dich, um ihn mir wieder anzuziehen; es war ein Meisterstück des Gleichgewichts. Ich bewunderte es um so mehr, als du es vor aller Augen vollbrachtest, denn inzwischen standen alle um die leere Tanzfläche herum und sahen den Zwillingen zu, die zum erstenmal in der Öffentlichkeit zusammen tanzten. Du führtest meinen Fuß zurück in den Schuh. Die Bewegung wird von außen nüchtern und zweckmäßig ausgesehen haben. Und doch veränderte sie die Welt. Die Wärme deiner Hand, die sanfte Festigkeit des Griffs - sie werden mir für immer unvergeßlich bleiben. Unsere Blicke ertranken ineinander, als du wieder oben warst, nein, dieses Mal konnte es kein Mißverständnis sein, auch im Januar war es keines gewesen, das wußten wir in diesen Sekunden, und als wir uns nachher bei rauschendem Applaus Hand in Hand verbeugten, waren meine Hände schweißnaß in den weißen Handschuhen.
    Noch heute bin ich erstaunt über das Paradox, daß es der Blick der anderen war, unter dem wir unsere neue, verbotene Nähe besiegelten.
    Irgend jemand muß uns nach Hause gefahren haben, alles andere hatte ich bereits vergessen, als wir im dunklen Entrée aufeinander zugingen. Im Lichtschein, der durch das Glas über der Tür hereindrang, sah ich das schweißnasse Haar auf deiner Stirn. Und den weißen Schal. Bei Gelegenheiten wie diesen trugst du

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