Der Klavierstimmer
- wildfremde Menschen, die dir doch überhaupt nichts bedeuten konnten?
Papa konnte wunderbar erzählen. Niemand sonst fand das. Auch du nicht. Nicht daß er, wenn wir allein waren, plötzlich zum wortreichen Erzähler geworden wäre. Es war ein karges Erzählen mit vielen Pausen und wenigen Worten. Man mußte sich auf das langsame Tempo seiner schweigenden Phantasie einlassen. In seiner extremen Langsamkeit war es ein Tempo, das die Welt aus den Angeln hob. Das Aufgeregte und Grelle der äußeren Welt verlor an Wirklichkeit, wenn Papa bedächtig Wort an Wort fügte und seinen Figuren Leben verlieh. Er hat uns nie Märchen vorgelesen. Das hatte er nicht nötig. Mit einem Blick, der nur zum Schein tadelnd war, in Wirklichkeit aber Komplizenschaft verriet, sah er mich über den Rand seiner Halbbrille an, wenn ich nach dem offiziellen Zubettgehen in das Zimmer mit der rötlichen Tapete schlüpfte, das in Genf sein Arbeitszimmer war. Anfangs saß ich auf seinem Schoß, wenn er erzählte, doch bald zog ich es vor, auf dem Boden zu sitzen, den Rücken an die rote Stofftapete gelehnt. Mit den Handflächen fuhr ich über den Stoff, der sich weich wie Samt anfühlte, und diese samtene Empfindung wurde Teil von Papas Worten, die von Opernschicksalen handelten. Viel verstand ich nicht, denn er gab sich keine Mühe, die tragischen Geschehnisse dem Verständnis des kleinen Mädchens anzupassen. Doch das spielte keine Rolle. Wichtiger als der Inhalt war die Begeisterung in seinen Worten, eine leise, oft nur geflüsterte Begeisterung, voller Geheimnis, denn es sollte niemand von unseren nächtlichen Ausflügen in die Phantasie wissen. Die flachen, ovalen Zigaretten mit dem ägyptischen Tabak, die er damals rauchte, rochen während jener Stunden anders als sonst, ich konnte es mir nicht erklären, war aber ganz sicher, daß es sich so verhielt. Und nur in jenem Raum, eingehüllt in jenen besonderen Rauch, formte, ja modellierte Papa seine überraschenden Wörter, die man sonst nirgendwo hören (und, das stand für mich außer Zweifel, auch nicht lesen) konnte, Wörter von berauschendem Wohlklang und magischer Treffsicherheit. Die meisten habe ich vergessen, obgleich sie mir so kostbar waren. Wenn Papa mich mit einem Kuß auf die Stirn verabschiedet hatte und ich im Bett lag, hatten sich jene besonderen Wörter in nichts aufgelöst, es war, als hätten sie nur einen märchenhaften Augenblick lang existiert als Gebilde, in denen sich Samt, orientalischer Geruch und geflüsterte Begeisterung vermischten. Eines Tages dann kniff ich die Augen fest zusammen (ich hatte irgendwo gehört, daß das Konzentration bedeutete, wobei ich mich insgeheim fragte, was das sein mochte), und da gelang es mir durch unausgesetztes inneres Wiederholen, drei dieser Wörter aus Papas Zimmer hinauszuschmuggeln und für immer festzuhalten: wildlederweiche Stimme, herbstsanfte Melodie und nachtschwarze Verzweiflung.
Was hätte ich darum gegeben, jene nächtlichen Séancen in Berlin fortzusetzen! In Papas neuem Zimmer fehlte die samtene Tapete, die Beleuchtung hatte gar nichts Märchenhaftes mehr, und der Weg von meinem zu seinem Zimmer war viel zu lang, als daß ich hätte unentdeckt bleiben können. Doch das eigentliche, unlösbare Problem war, daß ich älter wurde.«Jetzt bist du eine Gymnasiastin!»sagte Papa, als ich am Abend des ersten Berliner Schultags zu ihm ins Zimmer trat. Das Wort hatte einen aufregenden Klang, es versprach viel, enthielt aber auch eine unüberhörbare Forderung. Ich hätte stolz sein müssen. Statt dessen war ich auf neue, bisher nicht gekannte Weise traurig: Es war das erste Mal, daß mir die Unwiderruflichkeit von etwas Vergangenem zu vollem Bewußtsein kam.«Man gewöhnt sich daran», sagte Papa, ein spöttisches und doch sanftes Lächeln auf den Lippen.
Zwei, drei Jahre vergingen, ohne daß es einen Ersatz für unsere frühere, geheimnisvolle Nähe gab. Zwar sah mich Papa auch jetzt noch manchmal mit seinem komplizenhaften Blick an, und ich vergaß nie, ihn nach der Oper zu fragen, an der er gerade arbeitete. Aber es war nicht mehr dasselbe. Mir fehlte unser früheres Geheimnis. Und so war ich wie elektrisiert, als Papa eines Abends beim Essen den Namen von Cesare Cattolica erwähnte.
Ich wußte vom ersten Moment an, daß es diesen Komponisten nie gegeben hatte. Gemerkt habe ich es an Papas Stimme, die mich an unsere frühere Verschwörung erinnerte, an den orientalischen Rauch und die samtene Empfindung auf den
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