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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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und begann zu lesen.

    Sie hatte jahrelang gegen mein Schweigen angeschrieben. Und weil sie keine Antwort bekam, hatte sie Antworten erfunden. Ja, buchstäblich erfunden. Ich hatte Vorwürfe und Bitterkeit erwartet, auch mit flehentlichen Bitten zurückzukommen hatte ich gerechnet. Doch nichts dergleichen. Sie war meiner Flucht (und es war auch eine Flucht vor ihr, das muß sie genau gespürt haben) mit einem Mittel begegnet, an das ich nicht gedacht hatte: der vollständigen Verleugnung der Wirklichkeit. Vom ersten Brief an war der Ton so, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen und als pflegten wir uns seit jeher regelmäßig zu schreiben. Sie hatte sich in diesem imaginären Gespräch über Kontinente und Meere hinweg fester eingerichtet, als sie in der Wirklichkeit jemals Fuß gefaßt hatte.
    Es mag dir sonderbar klingen, aber nachdem die erste Wut und das erste Erschrecken abgeklungen waren, empfand ich eine Art Bewunderung für die Art und Weise, in der sie unter Aufbietung der gesamten Einbildungskraft der Wirklichkeit getrotzt hatte.«Das Morphium - es gehört einfach zu Chantal», hatte Vater eines Tages zu mir gesagt. Es war ein großartiger Satz, fand ich. Er, der Träumer, verstand Maman. Das Lächeln, mit dem er seine Worte begleitete, werde ich nie vergessen: Es sprach daraus die tiefe, wunderbare Bereitschaft, Maman so anzunehmen, wie sie nun einmal war. Vielleicht muß man so sehr in sich selbst versunken sein wie Vater, um das zu können. Ich weiß nicht, ob er von ihren unwirklichen Briefen an mich wußte. Aber ich bin sicher, er hätte darüber ähnliches gesagt.
    Wie gut sie verstünde, daß ich die Welt sehen wolle!, schrieb sie. Besonders, weil das weite Reisen für sie wegen der Schmerzen schon lange nicht mehr möglich sei. Und Lateinamerika! Von Anfang an hätten mich ja die südamerikanischen Straßennamen in unserem Berliner Quartier beeindruckt. Vor dem Schild LIMASTRASSE sei ich zu Beginn jedesmal stehengeblieben, und dann hätte ich mich mit dem Atlas in meinem Zimmer verkrochen. (Daß du und ich Südamerika gemeinsam auswendig lernten, das unterschlug sie.) In den ersten beiden Briefen, die voll von solchen Dingen waren, stand kein Wort über dich. Erst im dritten: Du schreibst, Du wolltest Dich von Patricia lösen. Das ist gut, Ihr seid doch jetzt zwei Erwachsene. (Dabei redete sie mich stets mit mon garçon an.) Und dann begann sie, mir einen Beruf (Journalist) und eine Wohnung (Panorama-Fenster, Dachgarten) anzudichten. Kurz danach hatte ich mit einemmal eine Freundin. Das überraschte mich, es war das letzte, was ich erwartet hätte. Hatte sie endlich den Schritt vollzogen und mich freigegeben? Ich konnte es nicht glauben, und der nächste Brief gab mir Recht: Die Freundin (Juanita) hatte mir den Laufpaß gegeben. Der Brief war voller Trost und Verständnis. Als ich ihn in blindem Zorn zerriß, fluchten sie vor und hinter mir, und die vorbeigehende Stewardeß legte mahnend den Finger an die Lippen.
    Die Karte mit deiner Pariser Adresse war im sechsten oder siebten Brief, ich war seit gut drei Monaten in Santiago. Einige Tage nach meiner Ankunft dort hatte ich (entgegen meinem Vorsatz) Maman eine Karte mit meiner Adresse geschickt und darum gebeten, sie an dich weiterzuleiten, sobald sie wußte, wo du warst. Noch bevor die Karte in Berlin sein konnte, begann ich zu warten. Bis ich ganz damit aufhörte, dauerte es fast ein Jahr. Und nun mußte ich entdecken, daß Maman deine Mitteilung zwölf, dreizehn volle Wochen lang zurückgehalten hatte! Ich kochte vor Wut und ging auf die Toilette, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht schaufelte.
    Ich war wie mit Blindheit geschlagen; denn es dauerte sicher eine halbe Stunde, in der ich Maman tonlos anschrie, bis ich schließlich das Datum auf deiner Karte sah: Mitte Oktober. Maman hatte gar nichts verzögert. Du selbst warst es, die drei Monate lang geschwiegen hatte. Wie groß muß dein Bedürfnis gewesen sein, dich vor mir zu verstecken! Noch einmal kämpfte ich mit den Empfindungen, die ich jeden Morgen durchlebt hatte, wenn ich mit leeren Händen vom Briefkasten gekommen war. Ich verstand es nicht. Ich verstand es einfach nicht. Das Gefühl der Schuld wuchs und wuchs, denn nur so - durch den Gedanken, dir in jener Nacht etwas Schreckliches zugefügt zu haben - konnte ich mir notdürftig erklären, daß ich nichts mehr von dir hörte, geradeso, als seist du tot.
    Deine Karte mit der lange vermißten Handschrift vor mir, ging es mir im

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