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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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würden wir langsam umblättern. Wie als Kinder würden wir die Seite gemeinsam halten, und das Bedürfnis zu wenden käme in exakt demselben Moment. Doch inzwischen bist du wieder hinter den Anden verschwunden. In einer Sprache, die ich nicht verstehe. In einem Leben mit Menschen, die ich nicht kenne.
    Vorhin habe ich im Dunkel am Fenster gestanden. Wie in Berlin, als ich auf deine Ankunft wartete. Ich habe dabei nicht an unser Kind und die Lampen im Operationssaal gedacht. Vielmehr war es wie eine Reise in der Zeit, zurück in die Jahre, die vor alledem lagen. Glückliche Jahre. Manchmal, wenn es schwer ist, ein einzelner Mensch zu sein, möchte ich dahin zurück.
    Du wolltest nicht, daß ich nach Tegel käme. Als die Maschine landen sollte, ging ich in dein Zimmer hinüber, um dich nachher vom Fenster aus kommen zu sehen. Ich wollte dich, deine Gestalt und deine Bewegungen, für einige Augenblicke betrachten können, ohne dir schon zu begegnen. Licht habe ich nicht gemacht, der Schein der Straßenlaterne genügte. (Sie kam mir heller vor als früher, zudringlicher.) Je länger es dauerte, desto unruhiger wurde ich. Zunächst dachte ich, es sei nur die Angst, unser Wiedersehen könnte mißlingen. Erst nach und nach gestand ich mir ein, daß da noch eine andere Empfindung war, die sich, unbekümmert um alle Widersprüche, in die Vorfreude eingeschlichen hatte: Ich wünschte, du kämest nicht. (Wahrhaftig sollen unsere Berichte sein, ich muß es mir immer wieder sagen.)
    Fliegerjacken, dachte ich, als du schließlich in den Lichtkegel der Laterne tratest. Du trägst immer noch Fliegerjacken. Schon in Genf, du warst noch keine zehn, hast du von GP eine bekommen, es war die kleinste, die sich auftreiben ließ, und trotzdem versank dein Kopf in dem weiß gefütterten Kragen, der natürlich aufgestellt sein mußte, selbst beim schönsten Wetter. Auch jetzt war der Kragen aufgestellt und schloß sich um das Haar, das dir vom Wind in die Stirn gewirbelt wurde. Plötzlich bliebst du stehen und strichst dir übers Gesicht wie jemand, der einen Gedanken festhalten möchte, der ihm durch den Sinn geht. Diese Bewegung und das anschließende Innehalten - nichts hätte mich eindringlicher daran erinnern können, daß du aus einem anderen Leben in einer anderen Welt kamst, an dem ich keinen Anteil gehabt hatte. Ich hatte es so gewollt. Dennoch: Jetzt, wo ich wieder in diesem Haus war, dazu in deinem Zimmer, tat es weh, dich da unten stehen zu sehen, beschäftigt mit etwas, an dem ich nicht teilgehabt hatte. Schließlich nahmst du die Reisetasche (nicht dieselbe wie früher) in die andere Hand und gingst auf das Gartentor zu.
    In diesem Augenblick sah ich, wie ein Blitzlicht das Dunkel auf der anderen Straßenseite erhellte. Eine ganze Salve von Blitzen explodierte. Etwa eine halbe Stunde vorher war ein Auto mit überhöhtem Tempo vorbeigefahren und hatte ein Stück weiter mit quietschenden Bremsen gehalten. Jetzt wußte ich warum. Sie erfahren alles, die Fotografen, offenbar erkaufen sie sich sogar Einblick in die Passagierlisten von Flügen. Den ganzen Donnerstag und Freitag über hatten sie das Haus belagert, so daß ich die Fensterläden schloß, nicht einmal unsere schweren Vorhänge schienen mir genügend Schutz zu bieten. Als ich schließlich zwei von ihnen durch den Garten pirschen sah, öffnete ich demonstrativ das Fenster und spuckte hinaus, hoffentlich drucken sie das Bild, dachte ich.
    Daß auch du den Fotografen anspucktest, sah ich nicht, du hast es mir nachher erzählt. Ich sah nur, wie du die Tasche fallen ließest und auf ihn losgingst. Das hatte ich noch nie gesehen: daß du jemanden regelrecht verprügeltest. Du rissest ihm die Kamera vom Hals und warfst sie in hohem Bogen auf die Straße, ich habe den Aufprall durchs geschlossene Fenster gehört. Er wehrte sich kaum, ich hatte den Eindruck, daß er von deinem Gewaltausbruch, der immer mehr etwas Blindwütiges bekam, wie gelähmt war. Schließlich rammtest du ihm noch das Knie in den Bauch, so daß er mit seiner kaputten Kamera gebückt davonschlich. Du lehntest dich an den Pfosten des Gartentors um zu verschnaufen, strichst dir das Haar aus dem Gesicht und massiertest die Knöchel. Langsam verlor sich die ungewohnte Härte in deiner Haltung. Es dauerte noch Minuten, bis du schließlich die Tasche nahmst und durchs Tor tratest. Jetzt streift er die gewaltsame Episode ab, dachte ich währenddessen, er will dem Moment gewachsen sein, wo er Maman unter der Tür

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