Der Klavierstimmer
südländischen Gesichtszügen. Ich sah darin Clara, denn ihre Mutter stammte aus Georgien und ihr Vater aus Lugano. Ich wußte nicht viel von Vererbung, hatte aber gehört, daß es das gibt: daß erbliche Einflüsse für Generationen ruhen, um dann wieder hervorzutreten. Und wie dunkel war Claras Vater gewesen! Wie ein Sizilianer hatte er ausgesehen, und eure scharfen Nasen glichen der seinen aufs Haar. Ferdinando Fontana hatte er gehei ßen. Ferdinando Fontana! Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgeregt ich war, als ich den Namen hörte. So hieß der Schriftsteller, der über Puccinis Schicksal entschied.»
Mit Papas Gesicht geschah etwas. Die Tage im Gefängnis, Mamans Tod - all das wich aus seinen Zügen, und es kehrte jene Begeisterung in ihn zurück, die wir von früher kannten, wenn er über den Erfolg eines Komponisten in jungen Jahren sprach (den Durchbruch , wie er unweigerlich sagte).«Der junge Puccini, der sich nach dem Studium am Mailänder Konservatorium zwar Maestro nennen durfte, sonst jedoch noch ein Niemand war, las am 1.April 1883 in der Zeitschrift Teatro illustrato von einem Preisausschreiben, das in späteren Jahren Concorso Sonzogno hieß, weil der Verleger Edoardo Sonzogno der Urheber war. Einzureichen war eine einaktige Oper. Darin sah Puccini seine Chance. Die musikalischen Ideen hatte er. Was fehlte, war ein Libretto. Da machte ihn sein früherer Lehrer, der berühmte Amilcare Ponchielli, mit Ferdinando Fontana bekannt, der gerade an einem Textbuch schrieb und es Puccini nun überließ. Am Stichtag, dem 31. Dezember, reichte Puccini die Partitur ein. Der Titel der Oper war Le Willis , später wurde daraus Le Villi . Die Oper erhielt keinen Preis. Da half Fontana ein zweites Mal, indem er Puccini in ein reiches Mailänder Haus einführte, wo er seine Oper im Klavierauszug vortragen durfte. Anwesend war auch Arrigo Boito, nach dessen Text Verdi den Otello komponierte. Er war begeistert und empfahl das Werk dem Verlagshaus Ricordi , das es kostenlos druckte. Am 31. Mai 1884 fand im Teatro dal Verme in Mailand die Uraufführung statt. Es gab achtzehn Vorhänge, und das erste Finale mußte dreimal wiederholt werden. Am 24. Januar 1885 erreichte das Werk die Mailänder Scala. Mascagni hat für seine Cavalleria rusticana Melodien daraus gestohlen.»
Unter Papas Büchern gibt es mehrere Puccini-Biographien. Ich habe nachgesehen: Die Geschichte stimmt Wort für Wort. Die Daten habe ich jetzt eingesetzt, aber ich bin sicher: Auch sie stimmten auf den Tag genau. In diesen Dingen irrte er sich nie. Solche Daten, sie waren wie Fixsterne in seinem Universum. Die Mailänder Uraufführung von Le Villi ist weinrot angestrichen, es war ja ein rauschender Premierenerfolg, zugleich hat Papa auch helles Gelb eingesetzt, denn der Erfolg kam früh. Der Mißerfolg beim Preisausschreiben ist grün, in einer Nuance, die heller ist, als ich erwartet hätte. Die Aufführung in der Scala übrigens ist kein sehr dunkles Rot. Ich habe eine weitere Art von Erfolg entdeckt: Noch vor der Scala wurde Le Villi in Turin aufgeführt, wiederum viel Applaus, aber Puccini war mit der Wiedergabe nicht einverstanden: Lila, weder richtig hell noch richtig dunkel. Ist also Blau - anders als ich dachte - die Farbe der kritischen Distanz des Künstlers zum Applaus? Ich wäre froh, wenn es so wäre.
Papa war danach, noch stundenlang so weiterzureden. Mich auf eine letzte Reise in seine Gedankenwelt mitzunehmen. Er hatte Claras Bild immer noch in der Hand, vielleicht war es das, was ihn zu ihr zurückbrachte.«Ich begann mir den Fontana, der Claras Vater war, zurechtzudenken als Puccinis Fontana. Diese wunderbare Frau hier war seine Frau. Puccini verliebte sich in sie, als er im Hause Fontana das Libretto besprach. Sie inspirierte ihn zu allen weiteren Opern und stand mit ihm auf der Bühne, wenn er den Applaus entgegennahm. Diese Erfolgsfee war mir so nahe: Sie war vor mir auf dem Flügel. Und ihr wart ihre Enkel.»
Später kam Papa hinauf in mein Zimmer, wo ich im Dunkel auf dem Bett saß. Er setzte sich neben mich.«Paß gut darauf auf», sagte er und gab mir Claras Bild. Dann umarmte er mich, und ich roch den herben Geruch aus Mottenpulver und Gefängnis, der sich in seine alte Jacke hineingefressen hatte. Es war das letzte Mal, daß ich ihn lebend sah.
Schon ist es wieder Abend. Ich vermisse dich, Patrice. Ich würde gern mit dir über Claras Bücher sprechen. Wir könnten sie gemeinsam auspacken, Buch für Buch, und dann
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