Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
anderen Aufmerksamkeit für dich und deine Aufmerksamkeit zu fordern.
    Jemand, der dich nicht kennt, käme niemals auf die Idee, daß es so etwas gibt: eine artistische Virtuosität des Zuhörens. Diese Fähigkeit, sie barg eine Gefahr in sich, von der du nichts zu wissen schienst: Weil die anderen bei deinem Zuhören aufblühten, glaubtest du, sie müßten dir nun auch die Wahrheit sagen. Daß dein Zuhören sie dazu verführen könnte, sich für deine Ohren neu zu erfinden - das kam dir nicht in den Sinn. Auch das war eine Form deiner unverzeihlichen, bequemen und manchmal mühsamen Naivität, die ich liebte.
    Jetzt aber hörtest du anders zu. Früher hatte ich oft das Gefühl, daß zuerst ich kam, dann lange nichts, und dann erst das Thema, von dem ich sprach. Jetzt war es umgekehrt. Du warst sofort bei der Sache, man sah es an deinem Nicken und an den Nachfragen. Du drehtest mir den Kopf zu und lächeltest zum Zeichen des Erkennens, wenn ich von meinen Empfindungen sprach. Früher hättest du mich dabei berührt und hättest versucht, nachträglich noch etwas für oder gegen diese Empfindungen zu tun, so daß sie ein bißchen auch deine würden. Jetzt ließest du mein Erleben ganz bei mir. Kein einziges Mal machtest du den aberwitzigen, wunderbaren Versuch von einst: es mir abzunehmen. Es sprach Respekt aus dieser Haltung: Da saß deine erwachsene Schwester neben dir, die sechs Jahre lang ihr eigenes Leben gelebt und wer weiß was für Erfahrungen gemacht hatte. Etwas Ähnliches hatte auch ich gedacht, während ich auf deine Ankunft wartete: Sechs Jahre, das ist eine Zeit, in der jemand Arzt werden kann oder Anwalt. Er war wohltuend, dein Respekt, ich brauchte nicht auf der Hut zu sein vor deiner Nähe. In der Nacht habe ich darüber geweint, daß er so groß war, dieser Respekt. Daß du so erwachsen geworden warst.

    Wäre ich der Versuchung nur nicht erlegen! Kein Anschluß unter dieser Nummer . Als ich die Berliner Nummer wählte, habe ich natürlich nicht wirklich geglaubt, du würdest abnehmen. Es war nur ein Spiel mit der Illusion, weiter nichts. Das Telefon, das fiel mir erst nachher ein, hatte ich ja selbst noch abgemeldet. Im Laufe des Mittwochs würde es abgeschaltet, war die Auskunft gewesen, und heute ist Donnerstag. Kein Anschluß unter dieser Nummer . Jetzt ist es schlimmer als vorher. Denn jetzt weiß ich endgültig: Du bist weg.

Patrice
    DRITTES HEFT
    I N DER NACHT habe ich Michael Kohlhaas gelesen. Als ich gegen drei fertig war, hielt ich es nicht mehr aus und nahm den Hörer ab, um Paco anzurufen. Die Leitung war tot. Daß wir das Telefon abgemeldet haben, hatte ich völlig vergessen. Am Mexikoplatz nahm ich ein Taxi und ließ mich zum Nachtschalter des Postamts fahren. Ich war froh, daß in der Klinik nicht Mercedes Dienst hatte, sondern Teresa. Paco habe inzwischen wieder eine Art Bürstenschnitt, sagte sie und lachte: Er sehe irgendwie militärisch aus.
    «Paco», sagte ich,«ich bin es, Patrice. Hörst du mich, Señorito ?»
    «Sí.»
    Ich atmete auf.
    «Wie geht es dir?»
    Wie idiotisch! Da war ich mitten in der Nacht hierhergefahren und stellte nun diese konventionellste aller Fragen.
    Stille.
    «Paco?»
    «Sí.»
    «Möchtest du, daß ich zurückkomme?»
    Rauschen in der Leitung, gleichmäßiges Rauschen. Ich dachte, er sei weggegangen, da kam plötzlich:
    «El dibujo.» Die Zeichnung.
    «Hast du mir eine Zeichnung geschickt, Señorito ?»
    Ja, hörte ich Teresas Stimme, er habe eine Zeichnung gemacht, sie sei unterwegs zu mir.«Es ist viel Rot drauf», sagte sie.
    Ich gab dem Taxifahrer viel zuviel Trinkgeld und machte mit zitternden Fingern den Briefkasten auf. Nichts.
    Während ich schlaflos dalag, verfluchte ich mich wegen meiner dämlichen Fragen am Telefon. Bis ich merkte, daß mir auch jetzt keine besseren einfielen.
    Am Morgen rief ich als erstes bei Telekom an. Ich müsse das Telefon formell wieder anmelden, hieß es. Mühsam beherrschte ich mich, raste hin, stand in der Schlange und gab schließlich den Antrag ab. Wahrscheinlich nicht vor Dienstag, sagten sie, auf keinen Fall vor Montag. Was ist, wenn Paco inzwischen anzurufen versucht? Oder du? Aber nein, für dich bin ich doch in Santiago; und außerdem bist du selbst es gewesen, die die Sache mit dem Telefon erledigt hat.

    Heute abend kommt Juliette Arnaud. Ich kann es kaum erwarten, Vaters Musik zu hören.
    Vor mir liegt das Exemplar von Kleists Novelle, mit dem er gearbeitet hat. Auf der ersten Seite unser Signum: P & P.

Weitere Kostenlose Bücher