Der Klavierstimmer
beim Geschäftsessen, angeben konnte. Mehr nicht. Denn nicht einmal seine Antiquitäten kaufte er, weil sie ihm gefielen.
Oder tue ich ihm Unrecht? Nach Claras Tod und Mamans Heirat muß er in dem großen Haus einsam gewesen sein. Ich denke an seine Körperhaltung beim Abschied, wenn er am Chemin du Pré-Langard allein unter der Tür zurückblieb und dann einige Schritte auf den blendend hellen Kiesweg hinaus tat, als möchte er am liebsten mitkommen. Seine immer gleichen Worte zu Maman: Ma petite . Sein Winken. Und der heimliche Flachmann aus Gold, mit dem du ihn ertappt hast. Ich habe mich stets gefragt, was er nach unserer Abfahrt machen mochte, wenn sich die schwere, glänzende Eichentür mit den schmiedeeisernen Beschlägen hinter ihm geschlossen hatte. Einmal habe ich den Fehler begangen, dies laut zu denken, als wir durch das hohe Eisentor hinausfuhren. «Papa ne s’ennuie jamais», sagte Maman heftig, «tu comprends: jamais.» Dabei wußte sie genau, daß ich nicht nach Langeweile gefragt hatte, sondern nach Einsamkeit.
Das Genfer Uhrengeld, das GP geerbt hatte, konnte es doch nicht sein, was Clara bewog. Oder doch? Gab es ihr, deren Gesundheit stets auf wackligen Beinen stand, eine Sicherheit, in deren Schutz sie ihren künstlerischen Neigungen nachgehen konnte? Auf jeden Fall war es Clara, die Maman fürs Ballett interessierte, das weiß ich jetzt. Die drei Bücherkisten nämlich sind voll von Literatur zur Geschichte des Balletts. Wir müssen die Rücken dieser Bücher viele Male mit dem Blick gestreift haben, ohne zu ahnen, was für eine Welt sich dahinter verbarg. Hat Maman all diese Bücher gelesen, die ihrer Mutter so wichtig waren, daß sie den Namen zweifach hineingeschrieben hat? Und was haben sie ihr bedeutet? Wie wenig ich von dir weiß, Maman!
Als ich vorhin fortfuhr, wollte ich eigentlich nicht über GP schreiben. Was ich wollte, war: aufschreiben, was Papa an seinem letzten Abend über Clara sagte. Doch dann verschwammen mir die Buchstaben in Tränen, und ich riß (zum erstenmal) eine Seite heraus. Dann ging ich ins Café an der Ecke und nahm schweigend Verbindung mit den fremden Leuten auf. Sie müssen mich jetzt festhalten, diese Leute, wenn Papa lebendig wird und vor Claras Bild tritt, um von der Bedeutung zu sprechen, die sie für ihn hatte, eine Bedeutung, von der niemand wußte, niemand.
«Ich liebe sie», sagte er. Ich muß ihn entgeistert angesehen haben. Nicht nur, weil er Clara überhaupt nicht gekannt hatte. Vielmehr noch, weil ich diese Worte aus Papas Mund noch nie gehört hatte, weder auf Maman bezogen noch auf jemanden sonst. Es waren Worte, die ich Papa nicht zugetraut hätte. Auch die ungeschützte Art, in der er sie aussprach, hätte ich ihm nicht zugetraut. Er äußerte sie mit überwältigender Selbstverständlichkeit. Es war, als ob er - in dem Ton, wie man ihn wählt, wenn man mit ironischer Brechung ein Stück Selbstbehauptung zum Ausdruck bringen will - einfach seinen Namen gesagt hätte: Ich bin Frédéric Delacroix.
Er lachte, als er mein verständnisloses Gesicht sah. Es war das letzte Mal, daß ich Papa lachen sah. Es war ein richtiges Lachen, nicht das wissende Lächeln, das er hatte, wenn er heiser von Erfolg sprach oder die Leute mit seinem absoluten Gehör verblüffte. Ein richtiges, befreites Lachen war es. Als hätte er gewußt, daß es mit ihm bald zu Ende ging, so daß ich ruhig von seinem Geheimnis erfahren konnte. Nicht irgend jemand. Ich.
«Das erste Mal sah ich sie, als ich Chantal im Hause de Perrin begegnete.»( Im Hause de Perrin . Weißt du noch? Es war immer diese Formel, immer genau die gleiche, wenn er von der ersten, legendären Begegnung mit Maman sprach. Und wie dicht waren die Worte aus seinem Mund: die ironische Distanzierung von GP und von Mamans Anhänglichkeit an ihn; und dahinter - wie eine durchschimmernde Farbe - die Bewunderung für den Klang des adligen Namens und die Eleganz, für die er stand.)«Ihr Foto stand auf dem Flügel, den ich stimmen sollte. Um den Deckel aufstellen zu können, mußte ich das Bild zur Seite räumen, ich stellte es auf den Teetisch.»Er nahm die Fotografie im silbernen Rahmen in die Hand.«Sie hat mir sofort unerhört gut gefallen, und während des Stimmens warf ich hin und wieder einen Blick hinüber auf ihr Gesicht. Nie habe ich später den Salon am Chemin du Pré-Langard betreten, ohne mir mit einer Ausrede einen Augenblick zu erschleichen, wo ich mit ihr allein sein konnte. Dann kamt ihr mit euren
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