Der Klavierstimmer
sonstigem Schmutz). Und so sieht Jean in mir eine Verbündete. Ja, sagte ich, ich werde am Montag dasein. Aber im Augenblick kann ich es mir nicht vorstellen, und ich habe den vagen Verdacht, daß dabei mehr im Spiel ist als das Bedürfnis, mit den Aufzeichnungen fortzufahren und den Stoß der leeren Schulhefte Stück für Stück abzutragen.
Daß ich die Frage nicht beantworten konnte, ob Bücher zu Maman paßten, muß mich beschäftigt haben, denn nach dem Aufstehen begann ich nach den Kisten mit ihren Büchern zu suchen. Ich habe eine große Überraschung erlebt. Es gibt nämlich nicht weniger als drei Kisten voll von Büchern, die unserer Großmutter Clara gehört haben. In jedem Buch steht vorn ihr voller Name drin, geschrieben zuerst in kyrillischen Buchstaben und darunter ein zweites Mal in lateinischen: Clara Désirée Fontana-Aslanischwili . Alles Bücher aus der Zeit vor ihrer Heirat mit GP. Ich erinnere mich jetzt wieder, daß ihre Mutter ursprünglich aus Georgien stammte, finde es aber ein bißchen überraschend, daß sie an den Namen des Tessiner Vaters stets den der Mutter auch noch dranhängte. Natürlich konnte sie Russisch, und doch haben mich die kyrillischen Buchstaben verblüfft. Wir haben Clara ja nicht gekannt, sie starb, als Maman gerade mit der Schule fertig war.
Claras Bild, das bis zuletzt auf Papas Flügel stand, habe ich neben den Schreibtisch an die Wand gehängt. Immer will ich es nicht sehen; aber es muß so sein, daß eine Drehung des Kopfs reicht, um es betrachten zu können. Wie sie da am Flügel sitzt, das Gesicht ausgeleuchtet vor dem dunklen Hintergrund, mit dem langen schwarzen Haar, das ihr das eine Auge streift, und dann dieses unglaublich versunkene, glückliche Lächeln, das nicht ohne Spott ist, Spott gegenüber der Welt, sofern sie nicht Musik ist: Man kann sich in dieses Gesicht verlieben.
Was man nicht versteht: Wie eine Frau, die eines solchen Gesichts fähig war, GP heiraten konnte, den Antiquitätenhändler von der Grand-Rue mit den lauten Gesten und der Vorliebe für protzige Möbel und grobschlächtige Eleganz. Den Waffennarren mit dem Schrank voller Pistolen. Ich stelle ihn mir vor, wie er im riesigen Salon mit den Vorhängen aus schwarzem Brokat zum antiken Telefon greift und mit seinen Freunden aus den Kreisen des Militärs, der Lokalpolitik und der Banken spricht. Ich hatte stets das Gefühl, die Gegenstände seien in diesem Raum doppelt so schwer wie anderswo, sie drückten mit doppelter Schwerkraft auf das dunkle Parkett und die dicken Perserteppiche. «Continuez!» pflegte er zu seinen Gesprächspartnern zu sagen, wenn er bereit war, sie nach seiner Unterbrechung weiterreden zu lassen. Dabei spielte es keine Rolle, wer diese Partner waren, er hätte auch zur Queen «Continuez!» gesagt.
Er hat uns die Jugendstilvilla an der Limastraße gekauft. Jugendstil als der Inbegriff des Teuren. GPs Großzügigkeit, sie vernichtete diejenigen, auf die sie gerichtet war. Wie eine Überschwemmung. Das gibt es: Goßzügigkeit, die vernichtet, weil sie ohne Respekt ist.
Papa, dem armen Schlucker, legte er den Arm um die Schulter zum Zeichen, daß er ihn als Mann für seine Tochter akzeptierte.«Es soll euch an nichts fehlen», muß er gesagt haben.«Ich habe mich zusammengenommen», sagte mir Papa,«Gott, wie habe ich mich zusammennehmen müssen!»Für ihn war GP kein«Mann mit Erfolg». Papa, er hatte ein untrügliches Gespür für Echtheit und Unechtheit, und das Unechte verachtete er. Ich glaube, GP kam ihm, als Persönlichkeit betrachet, wie ein Hochstapler vor. Das wußte Maman, und es war ein Herd des Konflikts, der kompliziert war für sie; denn was sie an dem knorrigen, ungeschliffenen Klavierstimmer angezogen hatte, war gerade seine Echtheit, die GPs Art hohl und kitschig aussehen ließ. Sie spürte, daß Papas Beurteilung von GP so falsch nicht war. Zugeben aber konnte sie es nicht, nicht einmal nach seinem Tod.
GP, ein Mann von bescheidener Bildung, der jahrzehntelang The Reader’s Digest las (das du bei der Räumung der Villa hinter Mamans Rücken zentnerweise in den Müll kipptest) und Will Durants Kulturgeschichte ungelesen im Regal stehen hatte, heiratete Clara als die Feine, die Künstlerische, und er verehrte sie wie eine Madonna. Daß er sie dadurch auch unterdrückte, war ihm wahrscheinlich gar nicht bewußt. Sie brachte die Musik, überhaupt die Kunst, in die Ehe, ihm war das im Grunde alles fremd. Es war etwas, womit man im guten Restaurant,
Weitere Kostenlose Bücher