Der Klavierstimmer
Die Bücher, sie waren gekauft von gemeinsamem Geld und gehörten uns gemeinsam. Niemand kann wissen, daß es das gibt: ein derart unbefragtes Teilen, selbstverständlich wie das Atmen, so daß wir erstickt wären, wenn ein Verteilen hätte stattfinden müssen.«Wieviel haben wir noch?»Nie haben wir anders über Geld geredet. Zwischen uns gab es keinen Raum für den Gedanken des Borgens und Leihens. Wenn wir ihm bei anderen Geschwistern begegnet sind, oder bei Liebenden, fanden wir ihn lächerlich und fremd. Wenn es um Geld ging, kannten wir das Wort Merci nicht, kein einziges Mal haben wir es gebraucht, es wäre uns vorgekommen, als verließen wir den Bannkreis unserer Intimität und träten hinaus in die herbe Welt derer, die getrennt sind und deshalb so etwas nötig haben.
Der Text war mühsam zu lesen, denn er ist ein wahres Schlachtfeld von Angestrichenem, Durchgestrichenem, Eingefügtem und Kommentiertem. Herausgekommen ist ein Libretto für eine Oper in drei Akten, nicht weniger sorgfältig geschrieben als die Partitur, alles in Vaters rührender Schönschrift, gegen die nicht einmal Gygax etwas sagen konnte. Ich schäme mich, es zu sagen: Diese Leistung hätte ich Vater nicht zugetraut. Was habe ich eigentlich geglaubt, was er die ganze Zeit machte? Ich habe keine Ahnung. Ich hatte all die Jahre über keine Ahnung von seiner Arbeit.
Zum Beispiel diese Idee: Es gibt über die ganze Länge der Oper einen Chor, der viel Ähnlichkeit mit dem Chor einer griechischen Tragödie hat. Er ist Kleists Stimme, manchmal auch diejenige von Vater selbst. Der Chor hat unterschiedliche Aufgaben. Einmal geht es darum, dem Empfinden von Kohlhaas mehr Volumen zu verschaffen, indem der Chor über ihn mit Worten spricht, wie nur der Dichter sie gebraucht: Ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl, singt der Chor, veranlaßte Kohlhaas, bevor er sich zu wehren begann, erst den Knecht Herse zu den Vorwürfen zu hören, die man auf der Burg gegen ihn erhoben hatte. Ein ebenso vortreffliches Gefühl, und dies Gefühl faßte tiefere und tiefere Wurzeln, sagte ihm, daß er gegebenenfalls mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sei, sich Genugtuung für die erlittene Kränkung zu verschaffen. Der Chor erwähnt seine von der Welt wohlerzogene Seele und beschreibt den Zuhörern, wie es Kohlhaas ergeht, als er sich in seinem Verdacht der Ungerechtigkeit bestätigt findet: Mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen. Auch um wissen zu lassen, daß Kohlhaas in die Hölle unbefriedigter Rache zurückgeschleudert wurde , erhebt der Chor die Stimme.
Der Chor verkündet gewisse für die Öffentlichkeit bestimmte Manifeste, etwa die verschiedenen Kohlhaasischen Mandate , aber auch Luthers Plakat mit den harten Worten: du, den Ungerechtigkeit selbst, vom Wirbel bis zur Sohle erfüllt . Auch eine kritische Instanz ist der Chor, etwa wenn er singt, daß Kohlhaas zur bloßen Befriedigung seines rasenden Starrsinns handle. Und dann gibt es Stellen, wo Kohlhaasens Tun in Sätzen zusammengefaßt wird, die wie Gemälde sind: Kohlhaas kniete ein letztes Mal vor dem Grab der Kinder nieder und übernahm sodann das Geschäft der Rache . Oder nachdem er über die Tronkenburg hergefallen war: Er bestieg seinen Braunen, setzte sich unter das Tor der Burg, und erharrte schweigend den Tag . Es war, als spürte ich Vater, als ich das las.
Maman sprach in ihren Briefen von der eigenwilligen Art, mit der Vater Kleists Text behandle. Das ist milde ausgedrückt. Er hat die Hauptlinie der Handlung stehenlassen, die Figuren jedoch in gewissem Sinne neu geschaffen. Lisbeth, die bei Kleist früh in der Geschichte stirbt, begleitet Kohlhaas nun als treue Gefährtin bis zum Schafott. Es ist der Tod der beiden Kinder, durch den sein Rachebedürfnis bei Vater Nahrung erhält. Ja: statt der vielen, von Kleist im Ungefähren belassenen Kinder hat Kohlhaas einen Sohn und eine Tochter, Anton und Antonina. Nein, Zwillinge sind es nicht. Sie ist drei Jahre älter als er, und Kohlhaas findet, sie sei an der Seele noch ein Vielfaches reifer . Antonina ist Kohlhaas wichtiger als der Sohn. Über das Verhältnis der Kinder zur Mutter erfährt man nichts. Es ist Antonina, die den Vater davon abzubringen versucht, Haus und Hof zu verkaufen, um sich ganz seinem Rachefeldzug zu widmen. Sie ist es, die
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