Der Klavierstimmer
heißt, es gab noch eine Verzögerung. Sie hatte die Hände schon über der Tastatur, da sagte ich:«Einen Moment noch.»Ich trat ans Fenster, um mich zu sammeln. Ich wollte Vaters Musik vom ersten Ton an hellwach erleben. Als ich Juliette wieder anblickte, lächelte sie: Sie hatte verstanden.
Ihr Blick beim Spielen: wie der eines Simultan-Schachspielers, der alle paar Sekunden ein neues Ganzes aufnehmen und darin die wichtigen Kräftelinien erkennen muß. Von Zeit zu Zeit sagt sie mit atemloser Stimme, welches Instrument ich mir gerade vorzustellen habe. Nach etwa zehn Minuten braucht sie jeweils eine Pause. Orchesterpartituren vom Blatt spielen, sagt sie, sei das Anstrengendste, was sie kenne.
Es ist unglaubliche Musik, Patty. Besonders ihrer Wucht wegen. Du kannst einen Menschen so gut kennen, wie wir Vater kannten, und doch kann es dich vollkommen überraschen, wenn du die Musik hörst, die in ihm erklang. Dann kommt es dir vor, als hättest du bisher nichts verstanden, nichts. Bratsche, Klarinette und Fagott, das waren Vaters Lieblingsklänge. («Fagott», pflegte er zu sagen,«hat einen fernen Klang - wo immer man ist.») Ab und zu, an ganz unerwarteten Stellen, Harfe. Dann denkt man an Wasserspiele. Meistens Moll. An vielen Stellen, wo es überhaupt keinen Sinn ergibt, steht tempo rubato .«Ihr Vater war richtig verliebt in die Bezeichnung», sagte Juliette und lachte laut über die abwegigen Stellen, an denen der Ausdruck vorkommt.
Man spürt ein elementares Bedürfnis, aus sich herauszugehen und die eigenen Grenzen von innen her beiseite zu fegen. Es gibt Passagen von schwelgender Romantik, die hart an der Grenze zum Kitsch sind. (Juliette lächelt dabei und hat einen Ausdruck des plötzlichen Verstehens.) Dann wieder schwerblütige Melodien, die eine Vertonung der dunklen Landschaftsbilder holländischer Meister sein könnten. Ich kann nicht beurteilen, was die Musik unter künstlerischen Gesichtspunkten wert ist. Ob sie zu Recht oder Unrecht abgewiesen wurde. So höre ich sie nicht. Ich höre Vater zu, sein Gesicht vor Augen, sein Lächeln voll von tapferem Spott, seine Einsamkeit. Die gepolsterte Tür ist weit geöffnet, damit die Töne bis in den hintersten Winkel des leeren Hauses dringen können. Wenn du nur geblieben wärst, so daß wir es zusammen hätten erleben können. Es ist doch Vaters Musik. Das unsichtbare, unhörbare Zentrum, um das sich in unserer Familie alles gedreht hat. Die Millionen von unhörbaren Tönen, vor denen wir geflohen sind. Wir hätten ihnen zuhören und sie nachträglich in unsere gemeinsame Vergangenheit hereinholen können.
Fast zwanzig Jahre, Vater, war ich in deiner Nähe - und doch kannte ich deine Musik kaum. Gewiß, du hast die Melodien am Flügel ausprobiert, und als Kind war ich manchmal dabei. Doch damals hatte ich noch kein rechtes Unterscheidungsvermögen. Zudem hast du schlecht gespielt, abgehackt, immer unterbrochen durch das Eintragen der Noten auf dem Papier, so daß nicht der Eindruck einer größeren musikalischen Gestalt entstehen konnte. Ich habe deine Werke nie als längere Klavierauszüge gehört. Später, als das Gift deiner Erfolglosigkeit in mein bewußtes Leben zu sickern begann, habe ich mich, ohne daß es ein Plan gewesen wäre, gegen deine Musik und später gegen alle Musik, gegen Musik überhaupt, verschlossen. Musik, sie wurde für mich zum unheilvollen Ort des Mißerfolgs, der Enttäuschung und wortlosen Bitterkeit.
Patty und ich, wir haben nie eigentlich beschlossen, kein Instrument zu lernen. Doch bei jenem Abendessen einige Tage vor unserem achten Geburtstag, als Maman euren (oder jedenfalls ihren) Plan aussprach, uns zum Geburtstag Musikinstrumente zu schenken, haben wir wie aus einem Munde abgelehnt. Was wir gesagt haben, weiß ich nicht mehr. Aber dein Gesicht, Vater, meine ich noch heute vor mir zu sehen: dein Lächeln, mit dem du alle Enttäuschungen quittiertest. Es war viel schlimmer als Mamans Enttäuschung darüber, daß ihr Plan, den sie wie üblich mit GP besprochen hatte, auf Widerstand stieß. (Es war das erste Mal, daß wir ihr einen derart entschiedenen Widerstand entgegensetzten.) Bei ihr würde es vorbeigehen; in dir dagegen, da waren wir sicher, würde für immer eine Wunde bleiben. Erst Jahre später wurde uns klar, wie groß die Verletzung war. Du hast unsere Ablehnung nicht nur als Weigerung aufgefaßt, ganz allgemein in die Welt der Musik einzutreten. Es war viel schlimmer: Sie erschien dir als Weigerung,
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