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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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insbesondere mit deiner eigenen Musik in Berührung zu kommen; denn wir hätten ja etwas davon auf unseren Instrumenten spielen können.
    «Ist meine Musik jetzt still genug?»fragtest du, als die Handwerker die neue, gepolsterte Tür für dein Arbeitszimmer eingehängt hatten und du nach der Geräuschprobe wieder heraustratest. Ich werde mir die Grausamkeit nie vergeben, die in unserem Vorschlag der Schallisolierung lag.«Nehmen Sie die Tür wieder mit», hätte ich sagen sollen,«man hört ja nichts mehr von der Musik!»Ich hätte es laut und mit großer Bestimmtheit sagen sollen. Immerhin war ich schon dreizehn oder vierzehn. Ich habe es nicht gesagt. Nur in den Träumen habe ich dagegen aufbegehrt, daß sie dich einsperrten, und da war es eine Gummizelle.
    Alle haben wir es geschehen lassen, Maman, Patty und ich. Im entscheidenden Augenblick haben wir getan, als breche die verfluchte Tür herein wie ein Naturereignis; als seien nicht wir die Urheber. Und so hörten wir immer weniger von deiner Musik. Manchmal sah ich dich verstohlen an und versuchte zu erraten, wie sie in dir klang. Ich hatte die abstruse Vorstellung, es an deinen Gesichtszügen ablesen zu können. Jedesmal war ich erschrocken, wie wenig ich es mir vorstellen konnte; wie wenig ich von dem Wichtigsten in deinem Leben wußte. Eine Weile fragten wir noch nach den Themen der Opern. Dann hörte auch das auf, und wir ließen dich ganz allein zurück in der Welt deiner Musik, die wir zum Schweigen gebracht hatten.
    In dem Alter, wo man ein Gefühl dafür bekommt, stellten Patty und ich uns vor, daß du hinter der gepolsterten Tür, allein mit der Musik, so sehr bei dir selbst warst, wie man sich das nur wünschen kann. Wir begannen heimlichen Neid zu spüren. Dem Neid war verworrener Groll beigemischt. Nicht nur hatten dein Mißerfolg und deine Verbitterung uns der Möglichkeit beraubt, daß auch wir in der Musik zu uns finden könnten. Es begann so auszusehen, als gehörte es zu jedweder Art, bei sich selbst zu sein, daß sie in der Welt zu Mißerfolg führte. Beides, so schien uns (obgleich wir es so nicht hätten ausdrücken können), ging nicht zusammen: erfolgreich und doch bei sich selbst sein. Und so begannen wir, alles zu meiden, was uns auch nur im entferntesten in den Bannkreis von Erfolg und Applaus hätte führen können. Wir wollten keinen Erfolg, weil er entfremdete und weil ihn zu wollen zerstörerisch war wie bei dir. Wir suchten den Mißerfolg. Wir wollten es besser machen als du: Statt unter dem Mißerfolg zu leiden, wollten wir ihn nutzen, um zu uns selbst zu finden.
    Doch dann kam die Entdeckung: Man kann Mißerfolg nicht planen, nicht absichtlich herbeiführen. Er hat nicht die Herbheit von echtem Mißerfolg, wenn er geplant ist. Eigentlich kann man mit der Ausführung von etwas gar nicht beginnen, wenn man nicht beabsichtigt, es gut zu machen, so gut man kann, und das heißt: so, daß die anderen es gutheißen würden; also Erfolg. In der Schule: Man konnte auf die Dauer nicht verleugnen, daß man etwas konnte, gut konnte. Wie also sollte man es anstellen, in seinem Leben nicht so durch den Wunsch nach Erfolg bestimmt zu werden wie du, Vater?
    Es waren - ich sagte es - verworrene Gedanken; aber sie hatten Macht über uns und prägten bis heute unser Leben.

    Juliette spielte sich durch die Ouvertüre und den ersten Akt. Die Ouvertüre beginnt mit fast idyllischen Klängen, um dann zunehmend von harten Dissonanzen zerrissen zu werden, die sich in Länge und Lautstärke steigern. Dazwischen schöpft das Orchester in leisen, harmonischen Passagen Atem. Man kann darin etwas vom Aufbau der Geschichte erkennen: Verletzung und Vergeltungsbedürfnis werden stärker und stärker, obgleich es dazwischen manchmal aussieht, als könne doch noch alles friedlich beigelegt werden. Früh führt Vater das Motiv der großen Vergeltungsarie nach Antoninas Tod ein: Es beginnt mit der Beschwörung von Trauer durch die Streicher, dann verfärbt sich die Trauer unter Einsatz der Bläser zu Haß; man kann die Musik als ein Schwanken zwischen beidem hören, der Haß obsiegt, indem die Holzbläser dem Blech weichen, und an dieser Stelle kündigt sich die eine Linie an, die den ersten Akt musikalisch bestimmt: ein Ensemble von ineinander verschlungenen Melodien, die von steinernem, beinahe religiösem Haß zeugen; über weite Passagen, meinte Juliette, kann man geradezu von einer Messe des Hasses sprechen.«Daß Haß so hart und zugleich so lyrisch klingen

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