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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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schließlich mit der Bittschrift nach Berlin fährt, begleitet vom Bruder, der nur dadurch zu Wort kommt, daß er verspricht, die Schwester heil zurückzubringen. Tödlich verletzt werden die beiden zurückgebracht. Vater läßt die sterbende Antonina das tun, was bei Kleist Lisbeth tut: Sie zeigt Kohlhaas den Vers: Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen . Es paßt nicht recht zu Antonina, daß sie das tut, und ich glaube, Vater hat es nur deshalb so arrangiert, damit Kohlhaas nachher seine große Arie hat: So möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe! Ich habe die Noten angestarrt, um die Melodie zu erraten, aber ich höre nichts, ich muß auf Juliette warten. Als der Begräbnistag kam, ward die Leiche, weiß wie Schnee, in einen Saal aufgestellt, den er mit schwarzem Tuch hatte beschlagen lassen , schreibt Kleist über die Beerdigung von Lisbeth. Genau diese Regieanweisung gibt Vater für die Beerdigung der Kinder. Und dann läßt er Kohlhaas singen: Warum habt ihr mich verlassen? Vor diesen Klängen fürchte ich mich. Noch eine Abweichung: Herse ist bei Kleist einfach ein Knecht, Kohlhaas zwar ergeben, aber etwas Persönlicheres ist es nicht. Vater hat aus ihm einen treuen Freund gemacht, mit dem er jeden Schritt bespricht. (Einen Freund, wie er ihn nie hatte. Es wäre schwer gewesen, Vaters Freund zu sein.) Herse ist sein Gewissen, mehr als Lisbeth, die zu ihm hält, weil sie Angst um ihn hat und ihn nicht verlieren will. Es gibt sogar eine Stelle, wo Kohlhaas sich bei Herse über sie beschwert: Im Grunde verstehe sie die Sache mit der Gerechtigkeit und der Vergeltung nicht. Ähnliches denkt er auch über Antonina, scheint mir; aber das gibt er nur in einer winzigen Andeutung zu erkennen, wenn er in der großen Vergeltungsarie singt: Vergebung aus Schwäche nicht! Auch nicht im Tode!

    Juliette ist gegangen.«Sie haben Eilpost», war das erste, was sie sagte, als ich ihr aufgemacht hatte. Sie zeigte auf den Aufkleber am Briefkasten. Der Bote muß gekommen sein, als ich für heute abend belegte Brote und Patisserie einkaufte. Es war Pacos Zeichnung. Ich zögerte, den Umschlag in ihrer Gegenwart aufzumachen: Es war, als würde ich ihr, noch bevor wir ein Wort gewechselt hatten, Zugang zu meinem Innersten verschaffen. Sie sah das Zögern, blickte weg und begann einen Spaziergang durch die leeren Räume. Ich nahm das Blatt heraus und sah: eine riesige Wand, unterteilt in Kästchen, davor in winzigen Strichen Blumen. Auf einem anderen Teil: freistehende Rechtecke, darauf Kreuze in der Schräge, die das Kreuz auf Christi Schultern hatte. Auf chilenischen Friedhöfen sind die Kreuze oft so. Über alles hinweg hatte Paco zwei dicke, geschwungene Linien gemalt, die in den oberen Ecken beginnen und sich in der Mitte treffen, wo sie dicke Enden haben, die miteinander verschmelzen. Unsere verschränkten Hände, wenn wir nebeneinander über die Friedhöfe gegangen waren.
    Ich putzte mir die Nase, als Juliette zurückkam.«Nein, nein, Sie stören nicht», sagte ich und half ihr aus dem Mantel.
    «So also wohnen Sie hier», sagte sie.«Oder kann man das nicht sagen: daß Sie noch hier wohnen?»
    Ich wisse es nicht, sagte ich.
    Sie wußte von dem Mord das, was in der Zeitung gestanden hatte. (Jetzt habe ich es also doch hingeschrieben, das Wort MORD. Eigentlich wollte ich es vermeiden, wollte tun, als gäbe es das Wort nicht. Ich bekomme Herzjagen, wenn ich auf die vier Buchstaben blicke, eine ganz und gar unvernünftige Reaktion, es ist doch nur ein Wort. Wenn ich dabei an Vater und Maman denke, will ich immer nur eines sagen: nein, nein, nein. Ich bin nicht sicher, was das heißt, aber ich glaube, es ist dieses: Es war ein Mord, ja, aber es ist trotzdem falsch, das Geschehene so zu nennen, es ist falsch und unfair, es trifft die Sache auch nicht im entferntesten, es ist geradezu grotesk, wie weit dieses Wort an der Sache vorbeigeht, denn Vater und Maman, das waren nicht Menschen, die wirklich einen Mord begehen konnten, dazu waren sie nicht fähig, es ist purer Unsinn, das Gegenteil zu behaupten, wenn einer es tut, dann zeigt das nur, daß er keine Ahnung hat, wie unsere Eltern waren.) Zunächst war es mir lästig, Juliette das Ganze zu erklären, doch ihre konzentrierte Art des Zuhörens tat gut, und auf einmal merkte ich, daß es mir half, die Geschichte jemand Fremdem erzählen zu können, es war ja das erste Mal.
    Wir machten die beiden Lampen an, und dann begann Juliette zu spielen. Das

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