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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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stummer Gefährte. Als ich ihn damals auf dem Spielplatz mit dem gelben Sand gesehen hatte, in sich versunken und unerreichbar für den Lärm der Welt, hatte ich das erste Mal, seit ich hier war, ein Bedürfnis nach Musik verspürt. In den ersten Tagen nach der Ankunft hatte ich mich plötzlich vor dem Teatro Municipal , der Oper, befunden. Auch wenn das verrückt klingt: Ich war überrascht, daß es hier eine Oper gab. Daß es hier Musik gab. Davor war ich doch davongelaufen. Ich nahm Pavarotti übel, daß er hierherkam. Beim Anblick von Paco dann hatte ich plötzlich das Gefühl, Musik könnte auch etwas sein, das nicht unter dem Diktat von Vaters Enttäuschungen stünde. Es würde sich um etwas ganz anderes handeln, dachte ich, es wäre kaum wiederzuerkennen. Diejenige Musik, die uns auf die Stille vorbereitet : Das erste Mal verstand ich den unendlich oft zitierten Satz von Antonio di Malfitano, den er als Antwort auf die Frage geäußert hatte, welche Musik ihm am meisten bedeute. Einige Wochen später, als ich Paco schon etwas besser kannte, wachte ich mit der Frage auf, wie es wäre, mit ihm zusammen Musik zu hören. Ihm die Welt der Musik zu erschließen; und damit mir selbst.
    Ich kaufte einen Walkman, an den man zwei Paar Kopfhörer anschließen kann. Wir gingen auf den Friedhöfen nebeneinander her und hörten dieselbe Musik, unsere Hände verschränkten sich beim Tragen des Geräts. Bevor wir die Starttaste drückten (sein Daumen auf meinem, damit er bestimmen konnte), machten wir einen Countdown aus Handzeichen, der ein wichtiges Ritual des Gleichklangs darstellte. Wichtig war der geteilte Rhythmus beim Gehen. Paco blieb stehen, wenn der Rhythmus gestört war. Er hat ewig klebrige Hände vom Naschen, er ist süchtig nach Süßigkeiten. Ich brauche nur an ihn zu denken und spüre das Klebrige an meiner Hand.
    Manchmal gingen wir auch ohne Musik Hand in Hand über die Friedhöfe. Da begann ich, ihm von dir zu erzählen, der verlorenen Schwester. Von unseren Zwillingsnamen, den ununterscheidbaren Matrosenjacken und Skimützen, die wir als Kinder trugen, und von den gelben Zwillingsbechern. Ich sagte ihm, wie sehr ich dich vermißte. Paco hat die ganze Geschichte unserer Jugend gehört, Episode für Episode, Gefühl für Gefühl. Das dauerte viele Wochen, und nie sagte er ein Wort. Abends brachte ich ihn zur Klinik. «Hasta luego, Señorito», sagte ich. Immer diese Worte, keine anderen. Vor der Klinik wollte er nicht berührt werden. Da war er so spröde, als hätten wir uns nicht stundenlang an den Händen gehalten. Nur an seinem Blick war abzulesen, daß da etwas gewesen war.
    Eines Tages dann geschah es: Paco sprach die ersten Worte seines Lebens. Der winterliche Himmel war bedrohlich dunkel geworden, so daß wir den Walkman zur Sicherheit in der Tasche verstaut hatten. Es war der 31. Juli, und ich hatte vom 1. August in der Schweiz erzählt. Es waren Bilder vom Feuerwerk über dem Genfer See, die ich beschrieb, Bilder, wie ich sie seit vielen Jahren nicht mehr vor mir gesehen hatte. Ich erzählte, wie du und ich die Raketen liebten. Wie dich faszinierte, daß sich am Ende eines Lichtstrahls, gewissermaßen aus dem Nichts, mit zeitlicher Verzögerung ein Bouquet aus Sternen entfalten konnte, und immer noch eines, wenn man schon sicher gewesen war, die letzte Stufe gesehen zu haben. Wie du, den Kopf weit nach hinten gebeugt, an der Reling des Schiffs standest, von dem aus wir das Feuerwerk betrachteten. Und wie ich dich liebte für deinen grenzenlos staunenden Blick, für die vollkommene Versunkenheit, mit der du draußen bei den Lichtern warst.
    «Warum gehst du nicht zu ihr?»Paco fragte es, als wir auf dem Cementerio Católico vor dem Grab von Sofia Izquierdo de Arellano standen, ich habe mir den Namen gemerkt, so wichtig erschien mir, was da eben geschehen war. Er hatte leise gesprochen, etwas am Klang verriet, wie ungewohnt das Sprechen für ihn war, aber die Worte waren klar und richtig gekommen. Ich war sprachlos. Zuerst vor Freude, dann deshalb, weil ich keine Antwort auf die Frage wußte. Es war an diesem Tag nicht möglich, Paco zu weiteren Worten zu verführen. Dieses Mal ging ich mit ihm bis auf die Station. Ich erzählte Mercedes, was geschehen war. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.«Das glaube ich nicht», sagte sie scharf. Paco zum Sprechen zu bringen - das war seit Jahren ihr Ziel gewesen.
    In der Nacht suchte ich nach Worten, um Pacos Frage zu beantworten. Dabei merkte ich, daß es neben

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