Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
der Freude, den Kampf gegen die Stummheit gewonnen zu haben, in mir auch ein Erschrecken gab. Pacos Stummheit war es gewesen, die mich zum Sprechen gebracht hatte, zum Sprechen über dich. Weil ich von ihm kein Urteil über meine Empfindungen zu befürchten hatte. Wie würde es von nun an sein?
    Es war ganz anders als erwartet. Nach etwa einem Monat gab es bereits einen Austausch von Worten zwischen uns, den man mit etwas gutem Willen als Gespräch bezeichnen konnte. Dein Name, den er mit spanischem c aussprach, hatte es ihm angetan, er benutzte ihn viel häufiger als nötig. «¿Patricia, qué …?»,«¿Patricia, dónde …?»,«¿Patricia, por qué …?» - das war die Form, welche die meisten seiner kurzen Sätze über dich hatten. Es kam darin eine besondere, mir bis dahin unbekannte Art der Anteilnahme zum Ausdruck. Paco sprach über meine Sehnsucht mit einer Nüchternheit, als handle es sich um ein technisches Problem wie etwa, einen Tunnel durch besonders harten Fels zu bohren. Er wollte meine Empfindungen erkunden wie ein neues Territorium, sie waren bisher ein blinder Fleck auf der Landkarte seiner Erfahrungen gewesen. Und er hatte eine Art Ehrfurcht vor diesem Unbekannten.
    So geschah nun zweierlei, wenn wir Hand in Hand über die Friedhöfe gingen: Ich lernte meine Sehnsucht neu kennen, und gleichzeitig erfuhr ich mehr über ihn. Diese erkundenden, wortkargen Gespräche mit einem Kind, das sie als autistisch eingestuft hatten, verhalfen mir nach und nach zu einer neuen Sicht meiner Gefühle. Und ich lernte, Fragen, wie Paco sie stellen würde, auch in seiner Abwesenheit an mich zu richten. Meine Gefühle waren bei ihm gut aufgehoben. Er wäre nie in Versuchung geraten, mir darin zu nahe zu kommen. Gerade das lernte ich von ihm: wie man über die Gefühle anderer sprechen kann, ohne sie zu gefährden.
    «Se pierde», sagte er, als ich ihn fragte, warum er so lange nicht gesprochen habe. Die Antwort kam so spät, daß ich erst nicht sicher war, ob sie sich noch auf jene Frage bezog. Sie können vieles bedeuten, diese Worte: daß man sich vergeudet, zum Beispiel, oder sich zugrunde richtet, oder sich verirrt. Vielleicht hatte er mit zwei, drei Jahren ganz normal zu sprechen begonnen und war mit Schlägen zum Schweigen gebracht worden. Die Deutung aber, die mich am meisten anzog, ist: Man verliert sich, wenn man spricht. In dieser Nacht lag ich lange wach, und dann träumte ich von penser pensées .
    Für einige Tage unterbrach ich unsere Spaziergänge. Also hatte Mercedes vielleicht doch recht. Mein Gedanke war von Anfang an gewesen: Paco findet den Weg nach draußen nicht, man muß ihm helfen, indem man ihn aus sich herauslockt. Dagegen stand ihre vehemente, geradezu wütende Behauptung: Das genaue Gegenteil ist der Fall, er hat sich in sich zurückgezogen, weil er nach außen zu verfließen droht, sein Problem ist die fehlende Abgrenzung. Doch warum dann der Versuch, ihn zum Sprechen zu bringen? War das, wenn die Diagnose stimmte, therapeutisch nicht ein krasser Fehler? Als ich ihr das vorhielt, blickte sie mich in stummer Wut an. Es war die Wut von jemandem, den man ertappt hat: Sie wäre gern Pacos erste Verführerin geworden. Wir müssen aufpassen; Paco darf nicht zum Zankapfel werden.
    Er ist langsam beim Sprechen, manchmal ist es zum Verzweifeln. Am Anfang machte ich die Sätze für ihn fertig. Dann stampfte er vor Wut auf und ballte die Fäuste. Da bekam ich eine Ahnung davon, daß meine Wortgewandtheit ein Hindernis sein könnte in der Beziehung zu den Menschen.
    Zwar ließ Paco es zu, daß ich ihn aus der Stummheit befreite. In der Wortwahl jedoch ließ er sich nicht durch mich bestimmen. Hatte ich ihm ein Wort in einer Weise vorgesagt, die er als bevormundend empfand, verwendete er es nie mehr. An den Lücken in seinem aktiven Wortschatz konnte ich meine Verfehlungen erkennen. Wenn es sich um ein Wort handelte, um das man nicht herumkommt, erfand er kurzerhand ein neues, und auf diese Weise entstanden Bruchstücke einer ihm eigentümlichen, privaten Sprache. Anfänglich griff ich diese Wörter auf, es war schön, sie verbanden uns, nur uns. Erst nach einer Weile begriff ich, daß auch das eine Verfehlung war, weil ich das Bedürfnis nach Abgrenzung nicht verstand und respektierte.
    Manchmal denke ich, daß ich deshalb von Anfang an ein gutes Gespür für Paco hatte, weil ich Vater in mir trage.

    All das habe ich Juliette erzählt. Das hätte ich nicht tun sollen. Nicht, bevor ich es dir erzählt

Weitere Kostenlose Bücher