Der Klavierstimmer
hatte.
Wir haben beschlossen zu schreiben, um voneinander loszukommen. Bedeutet das, daß wir auch über die Gegenwart schreiben, in der wir erzählen? Oder ist umgekehrt das Verschweigen dieser neuen Gegenwart gerade das, was die Befreiung ermöglicht? Wie hast du es dir vorgestellt, als du jenen grausamen Satz über den Kerker unserer Liebe sagtest?
Bereits gestern abend spürte ich, daß es mir nicht genügt, Vaters Melodien vorgespielt zu bekommen, ohne sie festhalten zu können. Deshalb kaufte ich heute morgen ein Aufnahmegerät, vier riesige Lautsprecher und zwei Mikrophone, die von der Decke herunterhängen wie in der Philharmonie. Zwei Stunden habe ich gebraucht, um die Haken an der Decke anzubringen, die Leiter mußte ich mir von den Sommerfelds borgen. (Sie sind befangen, wenn sie mich sehen, aber es ist eine traurige Befangenheit und keine schnüfflerische.) Das Aufnahmegerät ist ein gewaltiges Ding, stundenlang habe ich die Gebrauchsanweisung studiert, bis ich jeden Regler beherrschte. Es ist, sagte der Verkäufer, die größte Anlage, die er jemals an einen privaten Haushalt geliefert hat. In Vaters Arbeitszimmer sieht es jetzt aus wie in einem Studio: lauter Drähte und Kabel, das Aufnahmegerät auf vier Getränkekisten, die sich im Keller fanden, sonst alles kahl. Der staubige Geruch in der Luft und die Spuren früherer Bilder und Möbel passen dazu. Das Licht, wenn es morgens hereinsickert, scheint nun ein anderes zu sein als all die Jahre zuvor, es ist ein nüchternes, glanzloses Licht, auch wenn es aus einem strahlenden Tag kommt.
Als ich vom Geschäft zurückkam, fand ich einen Zettel im Türspalt: Werde Sie verklagen. Baranski. Seinen Brief hatte ich völlig vergessen, er stand mit seinen Kunden vor verschlossener Tür.
Juliette brachte einen kleinen Tisch zum Essen und zwei Regiestühle mit, ferner einen Kochtopf, zwei Teller, Tassen und ein Minimum an Besteck. Bevor wir mit der Musik begannen, machte sie eine Minestrone heiß.«Wie hast du dich in Santiago verpflegt? »fragte sie, als der dampfende Topf auf dem Tisch stand.
Sie spielte sich durch den ganzen zweiten und dritten Akt von Vaters Oper. Ich saß daneben und kontrollierte das Aufnahmegerät, wechselte die Kassetten aus und beschriftete sie. Bei den lauten Stellen muß man darauf achten, daß der Zeiger im Bereich bleibt. Vater hat viel Fortissimo dabei und abrupte Wechsel zwischen Fortissimo und Pianissimo. Juliette hatte eine Engelsgeduld mit mir und spielte gewisse Passagen fünf-, sechsmal, bis ich den Eindruck hatte, die Klänge von innen her zu kennen. Es ist wie eine Sucht: Ich möchte auch noch die kleinste, unauffälligste Klangnuance einfangen, die Vater durch den Sinn gegangen ist.
Der Höhepunkt des zweiten Akts ist die Begegnung zwischen Kohlhaas und Luther. Vorher fällt Kohlhaas in die Tronkenburg ein, verschont im letzten Moment das Stift zu Erlabrunn, wo er den Junker vermutet, und geht dann zur Einäscherung von Wittenberg über. Das Volk in der Stimme des Chors fordert die Abführung des Junkers aus der Stadt. Kleist stellt Kohlhaas in dieser Phase als einen Mann dar, der dem Größenwahn verfallen ist, was sich an seinem Aufzug zeigt: Ein großes Cherubsschwert auf einem roten Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf Knechte mit brennenden Fackeln folgten ihm. Vater hat das durchgestrichen und an den Rand geschrieben: Kitsch! Dort, wo Kohlhaas liest, wie ihn Luther der Ungerechtigkeit bezichtigt, ist er bei Vater allein, er liest den Text stets von neuem, und der Chor singt: Wer beschreibt, was in seiner Seele vorging!
Luther ist ein Baß. Dein Odem ist Pest! schleudert er ihm entgegen, als Kohlhaas den Raum betritt. Vater mochte Luther nicht. Er läßt ihn bombastische Melodien von stampfender Selbstgerechtigkeit singen, die den Singenden zur Karikatur machen.«Brillant», sagte Juliette und spielte die Arie von sich aus ein zweites Mal. Wo ist, solange Staaten bestehen, ein Fall, daß jemand, wer es auch sei, daraus verstoßen worden wäre? fragt Luther Kohlhaas. «Mais ça alors!» knurrte Juliette empört. Kohlhaas bleibt in dieser Szene musikalisch blaß bis zu dem Wortwechsel über Gott und Vergebung. Kohlhaas erbittet das heilige Sakrament. Der Herr aber, dessen Leib du begehrst, vergab seinem Feind. Willst du dem Junker gleichfalls vergeben? singt Luther. Der Herr auch vergab allen seinen Feinden nicht, erwidert Kohlhaas bei Kleist. Der Gott, der das verlangt, ist
Weitere Kostenlose Bücher