Der Klavierstimmer
fest wie Buchdeckel, und auch die Rücken sehen aus wie bei einem Buch. Alles weinrot natürlich. Das Titelblatt: Man kann noch erkennen, daß Vater die verzierten Buchstaben mit Bleistift vorgezeichnet hat, bevor er sie mit Tinte ausmalte. Tragische Oper steht unter dem Titel. Von Frédéric Delacroix. An drei Ecken ist der Karton der Deckel gestaucht, die rote Klebefolie geriffelt. Das Wasser ist bis zu den Blättern gedrungen und hat die Tinte stellenweise aufgelöst, so daß die Noten nicht mehr zu erkennen sind. Kein Begleitschreiben. Der Stempel: 20. Oktober. Heute ist der 16. November. Vater, ich kann hören, wie du sagst:«Siebenundzwanzig Tage hat es gedauert, und keinen weniger.»263 Notenblätter, die Vater und Maman in den Tod getrieben haben. Was mache ich damit?
Gestern morgen rief ich Juliette an. In der Stimme von Madame Arnaud lag Erstaunen über den frühen Anruf am Sonntag morgen. Es sei eine schreckliche Tragödie, sagte sie, Juliette habe alles erzählt. Es klang echt, fand ich, offenbar haben die Arnauds mir die abgelehnte Einladung nicht übelgenommen. Ob ich in Berlin bliebe oder nach Chile zurückginge? Ich wisse es noch nicht, sagte ich. Ich habe ja wirklich keine Ahnung.
Es genüge mir nicht mehr, Vaters Arien als Klaviermelodien zu hören, erklärte ich der verschlafenen Juliette. Ob sie zwei Gesangsstudenten auftreiben könne, einen Tenor und einen Mezzosopran, die den Part von Kohlhaas und Lisbeth singen könnten?«Und das am Sonntag morgen», sagte sie. Sie werde herumtelefonieren. «Tu es fou.»
Sie kamen zu viert, Juliette hatte noch einen Alt für Antonina mitgebracht.«Das wolltest du doch, oder?»
Die Stimmen hallten in den leeren Räumen und bekamen dadurch eine sonderbare Dramatik, oft fröstelte mich. Der Tenor, ein Schrank von einem Mann, singt ein bißchen gepreßt, und das paßt zu der verhaltenen Wut in allem, was Kohlhaas sagt. Lisbeths Stimme ist schön, aber etwas dünn, so daß die Figur schwächer wirkt, als sie dem Text nach ist. Antonina ist ein sehr dunkler Alt, ich hatte mir etwas ganz anderes vorgestellt, aber die Frau, die kurz vor dem Diplom steht, ist souverän, und die störende Passage, wo Antonina Kohlhaas die Bibelstelle mit den Feinden und dem Vergeben zeigt, hat sie im dritten Anlauf so wunderbar gesungen, daß man den Text vergessen konnte.
Auch meine Schritte hallen, wenn ich in Vaters Zimmer auf und ab gehe. Juliette sagt, daß das blanke Parkett und das Fehlen von Möbeln die Klänge hart macht. Das ist gut so. Besonders bei den erbitterten Arien von Kohlhaas müssen die Töne durchdringend sein und schrill. Ich drehe die Anlage dann so weit auf, daß sich die Stimme des Tenors beinahe überschlägt. In solchen Augenblicken, so bilde ich mir ein, erhasche ich einen kurzen Blick in Vaters Seele. Es kommt mir dann vor, als habe er in diesen Passagen bereits die Enttäuschung und Verbitterung vorweggenommen, die er empfand, als er erfuhr, daß der Brief aus Monaco null und nichtig war und er niemals im Opernhaus von Monte Carlo sitzen und die Erfüllung seines Traums erleben würde.
Solange jemand da ist, zeige ich die Gefühle nicht, die mich überwältigen, wenn ich der Musik lausche, die Vater in sich hörte und von der keiner (und niemand) etwas wissen wollte. Erst wenn ich allein bin, lasse ich die Bänder zurücklaufen und spiele sie in der Stille der Nacht ab, bis es draußen hell wird. Es ist eine Art Totenwache, die ich halte.
Dabei, Vater, denke ich immer wieder an die Frage, die du seit deinem ersten Opernbesuch mit dir herumgetragen hast: Wo die Gefühle der Menschen, die im Opernhaus der Musik entgegenflössen (wie du dich ausdrücktest), im Alltag blieben. Was die Menschen damit machten. Du meintest die Gefühle, die während einer Arie den Raum ausfüllen und für vollkommene Stille sorgen; die Gefühle, die sich in Wut entladen, wenn jemand raschelt oder hustet. Du sprachst davon, wie du hinterher die Leute beobachtetest, während sie an der Garderobe auf ihre Mäntel warteten; oder wie sie in der Pause ein eitles Gehabe zur Schau stellten und Nebensächlichkeiten erörterten. Dein Empfinden war: Wenn man etwas derart Wunderbares gehört hat, kann man doch nicht zur Tagesordnung des banalen Lebens zurückkehren. Du meintest nicht: am selben Abend, sondern: niemals mehr. Die Schönheit der Musik, das war doch eine Revolution, etwas, das alles von Grund auf ändern sollte, etwas, dessentwegen man alles hinter sich lassen müßte, um
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