Der Klavierstimmer
linkische Mann, der einen Flügel mit solcher Sorgfalt, ja Hingabe stimmen könne. Philipp de Wolff, dem nur Papa die Mechanik eines Flügels weich genug machen konnte, meldete sich aus Rom. In der Nacht zum Samstag riefen sie sogar aus New York an, zuerst Sarah Silberstein, die Papa stets während der gesamten Zeit des Probens bei sich haben wollte, kurz darauf Alan Seymoor, der das Rauchen aufgegeben hatte und Papa die Zigaretten packungsweise wegrauchte. Niemand verstand es. Ich auch nicht, sagte ich immer wieder, bevor ich schließlich den Telefonstecker herauszog.
Einmal hielt ich es nicht mehr aus und machte mich auf den Weg nach Moabit. Dieses Mal nahm ich die U-Bahn; den Kommentar eines Taxifahrers hätte ich nicht ertragen. Bei der Turmstraße stieg ich aus. Als das Gericht in Sicht kam, verlangsamten sich meine Schritte. Bilder von düsteren Gängen, durch die sie Papa vom Gefängnis ins Gerichtsgebäude führen würden, formten sich in mir. Als ich vor dem grauen Gebäude stand, konnte ich nicht weiter und fuhr nach Hause. In der Nacht träumte ich, ich würde Papa von der Straße aus zuwinken. Ich wußte nicht, ob er mich sah. Das Schlimmste aber war, daß mein Arm schwer wurde wie Blei und ich das Gefühl hatte, etwas zu tun, was kein Mensch aushalten konnte. Dem eigenen Vater hinter Gittern zuwinken: Würde man das ertragen? Warum erscheint es schrecklicher, als ihn bloß in der Zelle zu wissen?
Maman erwachte am Freitag erst gegen Mittag. Immer wenn ich an die Anklagen dachte, die ich in ihr schlafendes Gesicht hineingesprochen hatte, gab ich mir besondere Mühe mit ihr. Ihre Schritte waren unsicher, die Betäubung durch die Spritze schien noch nachzuwirken. Auch jetzt verweigerte sie das Essen.
Als ich von Moabit zurückkam, war sie verändert. Sie hatte sich gewaschen und gekämmt und räumte das Boudoir auf. Ihre Bewegungen waren fließend und hatten etwas von der zerbrechlichen Wachheit einer Schlafwandlerin an sich. An der Schranktür hing das blaue Kleid, das sie morgen anziehen würde, um dich zu empfangen. Auch die passenden Schuhe hatte sie bereitgestellt. Noch einmal mußte ich ihr erklären, warum du unmöglich schon heute hier sein konntest. «Ah, oui», sagte sie nur, und ich hatte den Eindruck, daß sie die Erklärung sofort wieder vergaß. Jetzt klappte sie die Schreibplatte des Sekretärs herunter und legte Papier bereit.«Ich möchte jetzt allein sein», sagte sie,«ich muß meine Sachen ordnen.»Anders als heute hatten diese Worte damals keinen besonderen Klang für mich. Zum erstenmal seit ihrem Anruf in Paris schien Maman nicht mehr nur zu taumeln, sondern wieder einen Willen gefunden zu haben.
Ich ging in mein Zimmer und legte mich im Dunkeln aufs Bett. In diesen Minuten startete deine Maschine in Santiago.«Hol mich nicht ab», hattest du gesagt,«ich möchte nicht, daß es ein Wiedersehen am Flughafen wird.»Unten hörte ich das Klopfen von Mamans Stock. Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack. Immer wieder Doktor Rubins Worte. Und Papas Worte: Tu dois comprendre: c’est mieux comme ça. Ich bin nicht darauf gekommen. Die Wahrheit wäre mir zu abenteuerlich erschienen, um auch nur eine Sekunde daran zu verschwenden.
Morgen ist Montag. Aus dem Erinnern in die Welt hinaustreten: Ich habe Angst davor.
Kein Anschluß unter dieser Nummer. Ich stelle mir vor: die Maler in den Räumen an der Limastraße. Bald werden dort wildfremde Menschen wohnen. Du bist hinter den Anden verschwunden. Dort ist jetzt Frühling. Die Kordilleren, sie hätten dich enttäuscht, sagtest du mit der scherzhaften Überheblichkeit des Schweizers.
Wie wird es sein, das Studio zu betreten und die Kollegen zu begrüßen? Nach allem, was mit mir in der Zwischenzeit geschehen ist? Im Halbdunkel vor dem Bildschirm: Bisher ist das etwas gewesen, was ich selbständig tat, aber auch gegen jemanden: gegen die Eltern, gegen dich. Es ist eine trotzige Selbständigkeit gewesen, und mein Trotz hat mich gewärmt. Morgen früh wird es eine andere Selbständigkeit sein müssen: eine selbständige. Eine, die nicht mehr gegen dich ist, sondern ohne dich. Wie finde ich sie?
Patrice
VIERTES HEFT
S IE HABEN VATERS Partitur zurückgeschickt. Der Mann von der Paketpost übergab sie mir: ein zerfleddertes, stellenweise durchnäßtes Paket, aufgegeben in Monte Carlo. Vater hatte die Partitur und das Textbuch schön binden lassen, schöner noch als die übrigen Partituren. Die Deckel sind
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