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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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immer von neuem jede Sekunde mit ihm, jedes Wort, jede Geste, jeden Blick. Tu dois comprendre: c’est mieux comme ça . Ich kämpfte mit dem Satz wie mit einem Code, den man nicht zu entschlüsseln vermag. Paß gut auf Chantal auf . GPs Pendule schlug die Stunden. Jedesmal ging ich hinunter und sah nach Maman. Wenn ich an ihrem Bett stand, hörte ich die Worte von Doktor Rubin: Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack.
    Er hatte ihr eine Spritze gegeben, und danach hatten wir sie ins Bett gebracht. Er kannte Maman erst seit einem halben Jahr. Gewußt hatte er vom Morphium nichts; aber geahnt hatte er etwas. Sein Gesicht erstarrte, als ich ihm von Doktor Fayard erzählte, der Maman in Genf behandelt hatte und ihr seit fünfzehn Jahren die Rezepte nach Berlin schickte.«Ein Verb...», begann er und verschluckte den Rest. Als er sich im Bad die Hände wusch, sah ich ihn den Schrank hinter dem Spiegel durchsuchen. Er kannte Maman schlecht; keiner von uns hatte das Zeug jemals zu Gesicht bekommen.
    Gerade als er gehen wollte, kam Dupré. Rubin, der nur die Schlagzeilen kannte, blieb, als der Anwalt berichtete. Papa war nicht unfreundlich gewesen, aber verschlossen wie einer, der partout keine Hilfe will. Über das Motiv war mit ihm nicht zu reden. Zwar erteilte er dem Anwalt schließlich das Mandat, fügte aber hinzu, er wisse nicht, was es da zu verteidigen gebe.«Es ist doch alles sonnenklar, und massenhaft Zeugen», hatte er gesagt und sein spöttisches Lächeln aufgesetzt. Er muß damit übertrieben haben, denn genau in diesem Augenblick, sagte mir Dupré später, war er plötzlich ganz sicher, daß Papa log. Er fragte, ob ich ihm einen Kaffee machen könne. Als ich aus der Küche zurückkam, hörte ich, wie Rubin jene Worte zu ihm sagte: Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack.
    Jede Stunde, Maman, stand ich neben deinem Bett und blickte auf dich hinunter. Du lagst auf dem Bauch, die Arme von dir gestreckt, das Gesicht mir zugewandt. Eine Haarsträhne bewegte sich im Rhythmus deines Atems. Er ging beängstigend langsam, dein Atem. Eingeatmet hast du manchmal erst, wenn mir vor Angst der eigene Atem stockte. Du hattest nicht einmal die Kraft gehabt, oder den Willen, dir das Gesicht zu waschen. Das Rouge, der Lippenstift, die Wimperntusche - alles, was du mit deinem Gesicht gemacht hattest, um schön zu sein im Dunkel der Loge, war verschmiert. Du sahst aus wie eine Schiffbrüchige, eine Gestrandete. Die Augen lagen furchtbar tief in den Höhlen und schienen für immer geschlossen zu sein.
    In Gedanken begann ich zu dir zu sprechen. Mit keinem Wort, sagte ich, hast du nach Papa gefragt, als ich heimkam. Und du wußtest, daß ich bei ihm gewesen war, natürlich wußtest du es, auch wenn ich es nicht gesagt hatte. Mit keinem einzigen Wort hast du nach ihm gefragt. Wie immer, wenn die Dinge schwierig wurden, hast du dich in Erinnerungen geflüchtet oder in Morphiumträume. Es gab ja GP oder Papa, und später Patrice, von ihnen hast du die Lösungen erwartet. (Nie von mir.) Deine zerstörte Ballettkarriere, ich weiß, ich weiß. Und deine Schmerzen. Aber das gab dir noch lange nicht das Recht, ausschließlich in der Vergangenheit zu leben und die Gegenwart als die Zeit zu hassen oder zu verachten, die leider nicht mehr die Vergangenheit war.
    Einmal, als ich dir meine lautlosen, wütenden Worte entgegenschleuderte, bewegtest du dich und stöhntest leise. Ich erschrak über die Heftigkeit meines Grolls, der sich Bahn gebrochen hatte. Ich deckte dich besser zu und strich dir die Strähne aus dem verschwitzten Gesicht. Ich habe dir Unrecht getan, Maman. Aber wie hätte ich von Désirée Aslanischwili wissen sollen, und von deinem Versuch, in der Arbeit an ihrem Buch zu einer Gegenwart zu gelangen, die dich mit deinen Schmerzen und auch mit deiner Sucht versöhnen könnte? Auch etwas anderes konnte ich nicht wissen: wie unerschrocken und aufopfernd du Papa zur Seite gestanden hattest in seinem verzweifelten Kampf gegen das Schweigen aus Monaco. Wie sehr du Anteil genommen hattest an seiner letzten, seiner wichtigsten Oper. Wie sehr du ihn in jener Zeit geliebt haben mußt. Und natürlich kannte ich das wahre Ausmaß deines jetzigen Unglücks noch nicht.
    Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack. Die Worte von Doktor Rubin ließen mich in jener Nacht nicht los. Worum war es gegangen? Um einen Besuch im Gefängnis? Oder

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