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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hatte Dupré von einer Vernehmung durch die Polizei gesprochen, als Zeugin? War das nach Papas Geständnis noch nötig? Am Abend der Tat hatte die Theaterärztin Maman für vernehmungsunfähig erklärt. Wie er Dupré erzählte, war der Kommissar darüber mit der forschen Ärztin aneinandergeraten. Als sie Papa abführten, hatte Maman einfach dagesessen, mit einer Haarsträhne gespielt und mit leerem Blick vor sich hingestarrt. Mehrmals hatte der Kommissar sie angesprochen, ohne Erfolg. Gleichgültig, wer vor ihr stand, sie spielte mit der Strähne, und ihr Blick blieb vollkommen leer. Da hatte der Kommissar ihr die Hand auf die Schulter gelegt und sie sanft geschüttelt. In diesem Moment trat die Ärztin dazu, faßte ihn wütend am Arm und wies ihn in schneidendem Ton zurecht. Sie ging vor Maman in die Hocke, fühlte ihren Puls und betrachtete ihr Gesicht.«Schock», sagte sie knapp.«Vernehmungsunfähig. »
    Sie fuhr mit, als Maman von einem Streifenwagen nach Hause gebracht wurde. Einmal fragte Maman:«Was machen sie jetzt mit ihm?»Der Fahrer und die Ärztin tauschten einen Blick. Sie wußten nicht, ob sie von Papa oder dem Italiener sprach, und sie trauten sich nicht zu fragen.«Sie werden schon das Richtige tun», sagte die Ärztin. Etwas Besseres als diese idiotische Floskel sei ihr einfach nicht eingefallen, sagte sie, als sie am nächsten Tag anrief. Es war ihr nicht wohl dabei, daß sie Maman in dem leeren Haus schließlich allein gelassen hatte. Doch Maman hatte sie dazu gedrängt. Kaum hatten sie das Haus betreten, war eine sonderbare Veränderung mit ihr vor sich gegangen. Sie erwachte aus ihrer Apathie, machte überall Licht und fragte die Ärztin, ob sie ihr etwas anbieten könne. Die Ärztin suchte nach Worten, als sie mir zu beschreiben versuchte, wie Maman gewirkt hatte. Schließlich sagte sie:«Sie war sozusagen innerhalb ihres Schocks aufgewacht.»
    Kaum hatte sie ihre Frage gestellt, hatte Maman die Rolle der Gastgeberin auch schon vergessen. Nun ging sie in Papas Arbeitszimmer, wo sie alle Lampen anmachte. Die Ärztin muß sie von der Tür aus beobachtet haben. Maman strich mit der Hand über die Kanten des Schreibtischs und ließ den Handrücken über einen Bogen leeren Notenpapiers gleiten. (Ich habe den Bogen gesehen, er lag perfekt ausgerichtet da, daneben Papas alte Feder. Das Ganze berührte mich wie ein Sinnbild seines vergeblichen Schaffens, und so ähnlich muß er es auch gemeint haben, als er die Sachen zurückließ im Wissen, daß er diesen Raum nach Ausführung seines mörderischen Vorhabens nie mehr würde betreten können. Irgendwann ertrug ich diesen Anblick nicht mehr und räumte die Sachen weg.) Nun setzte sich Maman an den Flügel, klappte den Deckel der Tastatur hoch und blickte verwundert auf die Tasten, als sehe sie sie zum erstenmal. Statt zu spielen erhob sie sich plötzlich und sagte in kühlem, beinahe feindseligem Ton:«Danke für den schönen Abend. Lassen Sie mich jetzt bitte allein.»Die Ärztin erschrak. Sie spürte, daß Maman auf hauchdünnem Eis ging und daß es vielleicht notwendig gewesen wäre, Widerstand zu leisten. Doch sie fand die Worte nicht, und inzwischen war Maman bei der Haustür.«Gute Nacht», sagte sie und öffnete die Tür. Ihr Lächeln sei freundlich und abweisend zugleich gewesen, sagte die Ärztin; wenn es so etwas gebe.

    Freitag und Samstag waren Tage des Wartens auf deine Ankunft. Es war ein verzweifeltes Warten voll von mißlingenden Versuchen, nicht an den roten Ziegelbau mit den vergitterten Fenstern zu denken. Als ich am Donnerstag auf Dupré gewartet hatte, war hinter einem der Gitter ein Gesicht erschienen. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen, es war einfach das Gesicht eines Mannes, und es sah aus, als stünde er vollkommen reglos hinter den Stäben und blickte hinaus. Daß es Menschen gibt, die das aushalten, dachte ich. Vor allem dieses Bild war es, das ich von mir fernhalten mußte; denn wann immer es ins Bewußtsein drängte, wurde es zum Bild von Papas Gesicht hinter den Stäben, die so schrecklich, so unnötig dicht nebeneinander stehen.
    Es gab viele Anrufe von Leuten, die ihrer Bestürzung Ausdruck verliehen, alles Leute, die Papa beraten hatte. Sie konnten die Zeitungsmeldungen nicht glauben und waren ratlos angesichts der grellen Schlagzeilen, die einem an jedem Kiosk in die Augen sprangen. André Duval, der Pianist, der in Berlin gastierte, rief an. Er glaube kein Wort. Nicht Monsieur Frédéric, der bescheidene,

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