Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
Wolli düster und steuerte auf die Aussichtsplattform zu.
»Was willst du denn da oben?«
»Nur mal gucken. Jetzt bin ich schon so lange hier und war noch nie auf so einem Ding.«
»Du bist erst seit gestern hier.«
»Ist doch egal! Außerdem war ich vorher schon oft hier, das zählt doch irgendwie auch.«
Sie kamen an die Plattform und gingen die Holztreppe hinauf. Oben bot sich ein überraschender Anblick. Frank hatte sich das immer so vorgestellt, daß hinter der Mauer die Stadt einfach weiterging, aber jetzt sah er zum ersten Mal, wie breit die Schneise war, die man hier zwischen die Häuser geschlagen hatte, um darin Sandfelder, Wege, Mauern, Zäune, Wachtürme und große Peitschenlampen, die das alles in ein gelbes, unwirkliches Licht tauchten, unterzubringen. Die andere Stadt war mehr als hundert Meter weit weg, schätzte Frank.
»Mann …!« sagte Wolli.
»Ja«, sagte Frank.
»Das ist ja Wahnsinn«, sagte Wolli. »Wie breit das ist!«
»Ja«, sagte Frank.
»Das raff ich irgendwie nicht«, sagte Wolli.
»Hm.«
»Laß uns wieder runtergehen!«
»Okay«, sagte Frank.
Sie gingen wieder hinunter und weiter zum Krahl-Eck. Dort war alles wie am Tag zuvor. Als sie eintraten, wurden sie wieder von den alten Leuten begafft, die im vorderen
Teil an den Holzfässertischen standen und sich an kugelförmige Biergläser klammerten.
»Was ist das denn für ein Laden?« sagte Wolli.
»Keine Ahnung«, sagte Frank. »Ich glaube, ich hätte gern ein Bier.« Er hatte Sodbrennen vom Sekt und hoffte, das Bier würde das wieder einrenken.
»Ich auch. Ich geh mal in Ruhe scheißen. Wo ist denn hier das Klo.«
»Keine Ahnung«, sagte Frank.
Sie gingen zusammen zum Tresen, und unterwegs bog Wolli ab Richtung Klo. Frank ließ sich zwei Bier geben und setzte sich damit neben die Musikbox, die heute von niemandem bedient wurde, alles, was zu hören war, war das Klirren der Gläser, die ein dicker Mann hinter dem Tresen spülte. Bis Wolli vom Klo zurückkam, hatte Frank schon beide Biere ausgetrunken.
Wolli ging zum Tresen, um neues Bier zu holen, und Frank stand auf, warf eine Mark in die Musikbox und drückte >Junge, komm bald wieder< von Freddie Quinn. Wenn schon, denn schon, dachte er.
»Der meint, der bringt das gleich«, sagte Woll i und setzte sich zu ihm an den Tisch. Dann saßen sie eine Zeitlang nur da und lauschten Freddie Quinn. Als der fertig war, sagte Wolli: »Kannst du mir fünfzig Mark leihen?«
»Wozu?« sagte Frank.
»Ich glaube, das ist hier nichts für mich«, sagte Wolli. »Ich will wieder nach Bremen. Das ist hier nichts für mich.«
»Was ist denn los?«
»Das besetzte Haus da, das ist doch scheiße. Weißt du, warum ich zum Scheißen in die Kneipe gehe?«
»Sind eure Klos kaputt?«
»Nein. Wir scheißen da alle seit gestern in einen Eimer.«
»Warum das denn?«
»Die wollen den im Vorderhaus auskippen. Bei denen da ins Treppenhaus.«
»Echt?«
»Ja. Die wissen sogar schon, wo der Schlüssel ist.«
»Aha!«
»Der ist da unter einem Stein. Die wollen da morgen früh rein und den Scheißeeimer bei denen im Treppenhaus auskippen.«
»Ahja!«
»Das nervt doch. Die sind da irgendwie zu hart drauf. Und kalt ist das in der Bude, mein lieber Scholli! Ich glaube, Mike hat recht gehabt.«
»Womit?«
»Daß das nichts bringt, nach Berlin zu gehen.«
»Muß jeder selber wissen, Wolli!«
»Weißt du noch, wie wir darüber gesprochen haben? Als wir unter der Brücke da gesessen haben, in Bremen? Mike hat gesagt, das ist doch Quatsch, dieser ganze Berlinscheiß. «
»Na und?«
»Mike hat recht, das ist doch Quatsch, totaler Quatsch!«
»Schon gut, Wolli, reg dich nicht auf.«
»Ich brauch die fünfzig Mark, das reicht gerade so für den Zug.«
»Sag nicht, daß du überhaupt kein Geld dabeigehabt hast!« sagte Frank.
»Doch, aber ich mußte da bei meinen Kumpels gleich für alles mögliche bezahlen, die hatten da alle möglichen Kassen, für Verpflegung, für Winterfestmachung …«
“Für was?«
»Winterfestmachung und lauter so Scheiß. Die haben doch den Arsch offen, Winterfestmachung, das klingt doch gleich irgendwie nach Ostfront oder nicht?«
»Naja …«, sagte Frank ratlos.
»Gibst du mir fünfzig Mark?«
»Klar«, sagte Frank.
»Das gibt auch so Busse, die fahren ab Funkturm, die sind noch billiger, aber ich weiß nicht, was die kosten …«
»Hier«, sagte Frank und gab Wolli fünfzig Mark.
»Danke«, sagte Wolli. Er hielt den Schein in den Händen und starrte auf
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