Der kleine Erziehungsberater
hinauszuklettern.
Anne gießt Limonade über meinen Kopf. Warum können wir nicht am Gardasee Urlaub machen? Ein Stau bei Modena. »Wann sind wir endlich da?«, fragt eine gequälte Stimme aus einem VW-Bus neben uns. Man müsste aussteigen und Pause machen, aber das Innere des Wagens ist inzwischen mit Bonbonmasse ausgegossen wie mit Acryl, und wir kommen nicht heraus.
Vor uns fährt ein Reisebus. Die Kinder auf der letzten Bank halten ein Transparent, auf dem steht: »Wann sind wir endlich da?« Ich schalte das Radio ein. »Quando arriviamo finalmente?«, singt Adriano Celentano. »Wahnsinnwirendlichda?«, fragt der Chor der Gummibärchen im Handschuhfach. Und Antje hat so gute Nerven. Und ich bin ein Versager, ich schreie und brülle, und das Auto wird so leicht, wir heben ab und fliegen über das Mittelmeer, und der Tower Cagliari sagt: »Merken Sie denn nicht, dass Sie da sind? Springen Sie über der kleinen Bucht unten links ab!« Es ist morgens, und wir kommen an. Todmüde. Vollkommen fertig. Wie gerädert.
Um ehrlich zu sein: Ich schicke diesen Text aus Sardinien. Ich bin ein Schafhirte mit drei Kindern und einer geduldigen Frau. Wir leben von Pecorino und entführen ab und zu einen Millionär, um etwas dazuzuverdienen. Es ist schön hier. Wir sind endlich da. Wir kämen auch gern wieder zurück. Aber wir haben Angst vor der langen Fahrt.
Ekelschleim
I ch weiß jetzt, was Kinder brauchen, um glücklich zu sein. Sie brauchen einen widerlich roten, geleeartigen Schleimball. Und das kam so:
Bei uns gibt es einen Schreibwarenladen, das ist der Schreibix, und beim Schreibix gibt es Cola-Schlangen und essbare weiße Wabbelmäuse und Gummibärchen. Und eines Tages gab es auch Schleimbälle. Für zwei Euro. Das Stück. Sie heißen nicht Schleimbälle, die Kinder nennen sie »Klebebälle«, weil sie an der Wand kleben bleiben, wenn man sie dagegen wirft. Aber sie sind aus Schleim, einem zähen, roten, schwabbeligen Ekelschleim, einer grauenhaften gallertartigen Masse, die ballrund ist, an der Wand haftend aber Kuhfladenform annimmt.
Irgend jemand hat Anne so einen Ball gekauft. Für zwei Euro. Das Stück. (Oh, hätte ich einmal eine solche Idee und würde sie vermarkten und wäre reich! Außerdem möchte ich einmal Menschen kennen lernen, die sich so etwas ausdenken. Ob sie selber Kinder haben? Oder Menschen mit Kindern hassen und sie deshalb ärgern wollen?) Als ich abends nach Hause gekommen bin, hat Anne geschrien: »Achtung, Papa!« Und flatsch! haftete an meiner Jacke roter Glibber. War das ein Jubel! War das eine Freude!
Am nächsten Morgen war der Schleimball weg. Verschollen! Unauffindbar! Antje und ich, die Eltern, krochen unter Betten, lüpften Teppiche, durchwühlten Schubladen, glotzten ins Klo – weg. Anne stand heulend zwischen uns, aufgelöst, am Ende.Schluchzend: Sie könne heute nicht in den Kindergarten gehen. Sie könne überhaupt gar nichts tun. Gibt es ein Leben ohne Schleimball? Kann man glücklich sein ohne roten Klebedreck? Kann man nicht.
»Okay, Anne, hier hast du zwei Euro. Lauf zum Schreibix und kauf dir einen neuen.« Normalerweise würde ich ihr nie zwei Euro für solchen Quatsch geben. Normalerweise würde Anne, die die Schüchternheit ihres Vaters geerbt hat, auch nie alleine zum Schreibix gehen, um sich was zu kaufen. Das hier war eine Ausnahme. Ein Notfall. Eine existentielle Grenzsituation. Die zwei Euro in der Hand eilte sie glückstrahlend sofort los.
Nach fünf Minuten kam sie heulend wieder, Rotz und Wasser. Die Schleimbälle waren ausverkauft. Erst nachmittags würde es sie wieder geben. Unmöglich, in den Kindergarten zu gehen! Was soll man im Kindergarten ohne Schleimball? Lächerlich! Absurde Vorstellung! Alle haben Schleimbälle, nur Anne nicht.
Ich musste dann ins Büro. Ich weiß nicht, wie Antje und Anne und die anderen den Vormittag überlebt haben. Ich weiß auch nicht, wo sie dieses Ding dann gefunden haben. Sie haben es jedenfalls gefunden. Das Glück ist eine rote Gallertkugel. Als ich abends zur Tür hereinkam, schwupp!, kam sie mir wieder entgegen geflogen, und ich konnte sie gerade noch auffangen. Ist doch eigentlich ein schönes Gefühl – wenn einem das Glück an den Fingern klebt.
Genesis
A m liebsten sitze ich mit Anne auf dem Sofa und lasse mir von ihr die Welt erklären. Meistens fängt das so an, dass sie ein paar Fragen stellt, zum Beispiel: »Papa, warum ist heute Sonntag?« Oder: »Warum gibt es Leute mit spitzen Nasen?« Oder: »Wenn ein
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