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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Baggerfeld jedoch starrte öde, sumpfig und anklagend zur Ruselstraße hinauf. Da erklärte man es eilig zu Bauland.

Teil V

1
    Der Wind, der sich bereits Anfang der fünfziger Jahre zu kräuseln begonnen hatte und später unter dem Namen »Deutsches Wirtschaftswunder« berühmt werden sollte, blies Bilder von Waren in die Köpfe der Deutschen, von nagelneuen Erzeugnissen, die man unbedingt zu brauchen meinte. Aber um sie bezahlen zu können, musste man sich mächtig anstrengen. Viele sahen sich bald in der misslichen Lage, sich immer mächtiger anstrengen zu müssen, weil sie angefangen hatten, Ratengeschäfte abzuschließen.
    Kaufen wurde leicht gemacht. Schon ab Juni 1951 bediente das Versandhaus Neckermann all diejenigen, die dabei zu Hause bleiben wollten. Ein böiges Lüftchen hatte bereits den zweihundertfünfzigtausendsten Käfer aus der Wolfsburger Werkshalle gepustet, und ein kräftiger Windstoß hatte den zukunftsträchtigen Hartschaum »Polystyrol« (von den BASF -Werken entwickelt) unter dem Markennamen »Styropor« in sämtliche Industriebereiche gefegt. Ein kecker Wirbelwind hatte sich der Bild-Zeitung angenommen, und eine solide Strömung hatte der jungen Bundesrepublik Deutschland die wirtschaftliche und politische Souveränität gewährt.
    In den Turbulenzen der sich vereinigenden Winde waren die Schellers während des Sommers 1952 ein großes Stück aufwärtsgetrudelt.
    Für Vater Scheller hatte ein strammer Luftzug die lang erhoffte Arbeitsstelle gebracht, was für die Familie die letzten Tage in der Nissenhütte eingeläutet und Ulrich den Übertritt in die Realschule gestattet hatte.
    Der Aufschwung wehte Ulrich aus der doppelten Diaspora von Neuhofkaserne und Nissenhütte mitten in die soziale Integration. Nach diesem Sommer fand er sich nur noch dann als Außenseiter und Abweichler gebrandmarkt, wenn katholische Religionslehre auf dem Stundenplan stand. Denn so einträchtig in der Mittelschule beide Konfessionen in allen anderen Fächern ihr Unterrichtssüppchen löffelten, so streng wurde gesiebt, sobald die katholische Geistlichkeit auftrat. Dann mussten sich sämtliche Protestanten in die Besenkammer verziehen.
    Drei Stunden Exil pro Woche, das konnte Ulrich verschmerzen. Sehr gut sogar, denn die unterrichtsfreie Zeit im Abstellraum ließ sich zum Nachholen ungeschriebener Aufsätze und nicht gepaukter Vokabeln nutzen.
    Die wirbelnden Winde hatten jedoch wie gesagt die Hafenbande zerstreut. Auch die Sommerferien nach Ulrichs erstem Mittelschuljahr konnten da nichts mehr zusammenschweißen.
    In diesen Ferien fegte Ulrich sechs Wochen lang in Mohrings Schreinerei Sägespäne zu stattlichen Haufen zusammen, ölte Gewinde und drehte Schrauben irgendwo hinein oder von irgendwo heraus, je nach Order. Bulli und Sabe schienen verschollen, ebenso Chef Gerhard. Ulrich konnte sich allerdings denken, dass man Gerhard in der Brauerei des Onkels festgenagelt hatte. Um eines Tages Nachfolger des kinderlosen Keisling zu werden, musste er sich ganz schön ins Zeug legen.
    »Wo wern denn bloß der Sabe und der Bulli gsteckt ham den ganzen Sommer über?«, fragte Ulrich, als er Mitte September zusammen mit Gerhard wieder in den Sieben-Uhr-Zug stieg, der sie nach Plattling zur Realschule brachte.
    Gerhard zuckte die Schultern. »Was weiß denn ich, wo die ihre Lumpereien angestellt haben. Heut werns jedenfalls wieder auf der hintersten Bank hockn.«
    »Sin mer nich een eenziges Mal vor die Linse gekommen, die zwee beeden«, sagte Ulrich und grinste breit. Seit ihn keiner mehr als Böhmack verhöhnte, kehrte er manchmal mit voller Absicht den Dialekt heraus, den er sich in den vergangenen Jahren mit viel Mühe ausgetrieben hatte. Daraufhin fuhr er in flüssigem Bairisch fort: »Der Vater vom Bulli, der taucht hin und wieder beim Mohring-Schreiner auf. Die zwei trinken ein Flaschl Bier miteinand und politisiern. Neulich aber hat sich die Red um den Bulli dreht. ›Den Bubn schlag ich noch mal zum Krüppel‹, hat der Alte vom Bulli plärrt.«
    Gerhard zuckte zum zweiten Mal die Schultern. »Wär ihm nicht zu verdenken: blaue Briefe vom Lehrer Rimböck, Beschwerden von den Nachbarn, Scherereien mit der Polizei … Der Bulli macht sich langsam einen Namen.«
    Es war abzusehen gewesen, dass Bulli und Sabe binnen Kurzem aus der Spur trudeln würden, wenn ihnen Chef Gerhard (dem sie jahrelang bedingungslos gefolgt waren wie der Hund seinem Herrn) nicht mehr zeigte, wo es langging, und vor allem, wo nicht. Sabe und

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