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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Bulli, jeder auf seine Weise, brachten sich seither am laufenden Band in die Bredouille. Es war kein Geheimnis, dass Bulli wegen seiner Raufereien (für die er sich Gegner aussuchte, die nur halb so groß waren wie er) in den Sommerferien mehr Tage Hausarrest abgesessen hatte, als er zählen konnte. Und ebenso wenig unbekannt war, dass Sabe nicht nur um die Brauerei Keisling, sondern auch um etliche Läden und vor allem um den Kiosk große Bögen schlagen musste. Sein Aktionsradius schränkte sich dadurch mehr und mehr ein.
    Die Gefährten der Hafenbande haben sich aus den Augen verloren – unbestritten, dachte Ulrich an diesem Morgen, an dem er das zweite Jahr in der Mittelschule begann, das ähnlich ereignislos verlaufen sollte wie das erste.
    In den darauffolgenden Sommerferien avancierte Gerhard zur rechten Hand seines Onkels, und Ulrich arbeitete bei Schreinermeister Mohring, der ihn von der Hobelbank ans Sägeblatt hetzte, von der Schleifmaschine zum Leimtopf und dazwischen zum Abladen der rohen Bretter und Aufladen der fertigen Ware.
    Anfang September 1954 klopfte sich Ulrich ein letztes Mal die Sägespäne von der Hose. Das dritte und letzte Mittelschuljahr sollte beginnen.
    Die Meute der Schüler stürmte den Zug, drängte in die Abteile, verstopfte die Gänge. Als Ulrich endlich zu sitzen kam, sah er sich Sabe und Bulli gegenüber.
    »Da schau her«, schrie Sabe, »der Schellerschädl!«
    »Mi leckst«, wieherte Bulli, »der Gripskopf!«
    »He, hockst du immer noch auf der Schulbank?«
    »Mir fei nimmer! Mir ham eine Lehrstell!«
    »Eine richtige Lehrstell.«
    »Gell, da bist baff.«
    »Wo habts denn eine Lehrstell?« Ulrich musste dreimal nachhaken, bevor die Antwort kam.
    »Der Wankel z’Plattling, der hat uns alle zwei eingstellt. Mir wern Heizungsbauer – wern mir.«
    Ulrich fragte sich, wie lange es die Firma Sanitär-Wankel wohl verkraften konnte, dass ab sofort betriebseigene Rohrzangen, Schraubenschlüssel und sonstiges Gerät mit Sabes Hilfe das Weite suchen würden. Er überlegte, ob es in dem Betrieb wohl jemanden gäbe, der es Bulli beizubringen schaffte, wie man mit Schublehre, Tiefenmaß und Lochlehre umging. Und er malte sich besorgt aus, wie Sabes Dreistigkeit vereint mit Bullis Beschränktheit künftig die Zugfahrten nach Plattling gestalten würde.
    De facto rechnete er mit Krawall in den Abteilen, mit Keilerei und mit Gezänk, und er stellte sich auf einen Haufen Schlamassel ein.
    Es war Bulli, dem Ulrich am Ende die schlimmsten Kalamitäten seines Schülerdaseins zu verdanken hatte. Bulli und Dr. Dirs, Abteilungsleiter bei »Installation & Heizgeräte Wankel«.
    Dr. Dirs fuhr (wie sämtliche Schüler, Lehrlinge, Angestellte und sonstige Pendler, die in Deggendorf wohnten, ihrem Beruf jedoch in Plattling nachgingen) jeden Morgen mit dem Sieben-Uhr-Zug in die Nachbarstadt. Er war bekannt dafür, dass er immer erst angesichts der zur Abfahrt mahnenden Signalscheibe in den Waggon drängte und dennoch einen freien Sitz vorzufinden erwartete. Dr. Dirs konnte sehr, sehr ungemütlich werden, wenn ihm nicht schleunigst Platz gemacht wurde.
    Kurz nach den Weihnachtsferien, so um den 10. Januar 1955 herum, geriet ihm Ulrich ins Visier, weil der sich genötigt fühlte, Bullis Haut zu retten.
    Es hatte die ganze Nacht geschneit, weshalb wohl Dr. Dirs noch einen Schritt später als sonst ankam und auf den bereits anfahrenden Zug aufspringen musste. In den Gängen krakeelten die Schüler, ihre feuchte Atemluft machte die Scheiben blind.
    Dirs wand sich zwischen müffelnden Schafwollpullovern und dampfenden Lodenjacken zum nächstbesten Abteil durch, wo er hechelnd die voll ausgelasteten Sitzgelegenheiten in Augenschein nahm. Niemand schenkte ihm Beachtung. Das ärgerte ihn natürlich beträchtlich, und erbost rief er in die Runde: »Weiß denn die Jugend heutzutage überhaupt nicht mehr, was sich gehört? Wir zu unserer Zeit haben den Erwachsenen Platz gemacht, stracks und unaufgefordert!«
    Bulli grinste dreckig, machte aus seiner rechten Hand eine lockere Faust mit senkrecht nach oben zeigendem Daumen und streckte sie Dr. Dirs entgegen.
    »Herr Dokter, ein Drehstuhl wär noch frei!«
    Dirs wertete den hochgereckten Daumen, der ihm als Sitzplatz angeboten wurde, durchaus zu Recht als Affront. Bulli hatte jedoch Glück, weil Dirs den Daumen im Gemenge von Mützen, Armen und Schulranzen weder identifizieren noch zuordnen konnte. Andererseits war der Doktor keiner, der schnell aufgab, und die

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