Der kleine Fluechtling
die sprichwörtliche Perle vor den Säuen.«
Daraufhin schrieb sie den Gugler-Hof zum Verkauf aus.
Es traf sich günstig, dass im Fahrtwind des Wirtschaftswunders allmählich wieder Sommerfrischler in den Bayerwald kamen. Sie reisten mit der Bundesbahn an, durchstreiften die Gegend um Rachel und Lusen und bestiegen dann wieder Züge zurück in Richtung Berlin oder Düsseldorf.
Ab und zu blieb allerdings einer der Feriengäste unterm Lusen hängen. Wie beispielsweise der Dichter, der sich irgendwann in Waldhäuser angesiedelt hatte. Er reimte »Tannengrund« auf »Zauberstund« und »Lusengestein« auf »immer mein«. Die Waldhäusler wussten damit nichts anzufangen, aber solange er die Milch und die Eier nicht schuldig blieb, ließen sie ihn zufrieden.
Minna konnte den Gugler-Hof zu einem annehmbaren Preis an einen Aquarellmaler verhökern, der sich wie der Dichter hier ansiedeln wollte. Als sie ihm den Hausschlüssel aushändigte, schenkte er ihr ein Bild des Anwesens in Öl und Tempera.
Der Erlös für den Hof gestattete Minna ein paar Extravaganzen. Als Erstes mietete sie eine schmucke Wohnung in der Kreisstadt Grafenau. Dann meldete sie Carmen zum Klavierunterricht und zur Singstunde an, und mit der Suche nach einer Arbeitsstelle ließ sie sich Zeit.
Nach einigen Wochen bewarb sie sich beim Städtischen Krankenhaus in Passau und bei den Atex-Werken in Neuschönau als Sekretärin. Während sie vergeblich auf eine Zusage wartete, studierte sie täglich die Stellenanzeigen in der »Passauer Neuen Presse«. Eines Tages fand sie eine, die ihr außerordentlich zusagte. Das Direktorat der Knabenrealschule in Plattling schrieb den Posten einer Bürokraft aus.
»Hundertzwanzig Schreibmaschinenanschläge pro Minute – blind«, nickte der Schuldirektor anerkennend. »Erfahrung mit Statistik und Erfassungsbögen. Sehr schön. Zu Beginn des neuen Schuljahres können Sie bei uns anfangen.«
Eilig kündigte Minna die schmucke Wohnung in Grafenau und zog mit Carmen nach Plattling. Am 1. September 1955, zwei Wochen nach dem Umzug, trat sie den Posten an.
Ulrich Scheller und Gerhard Schwarz sollten den Personalwechsel im Schulbüro nicht mehr mitbekommen. Beide hatten Ende Juli ihre Abschlusszeugnisse mit sehr bescheidenem Notendurchschnitt entgegengenommen.
Unter der Rubrik »Betragen« stand bei Ulrich allerdings ein bemerkenswerter Passus: »Scheller hatte während seiner gesamten Realschulzeit das Amt des Klassensprechers inne. Er stand seinen Mitschülern in vorbildlicher Weise zur Seite, und es gelang ihm, das Schüler-Lehrer-Verhältnis stets positiv zu gestalten.«
Genau das sagte der Rektor auch bei der Abschlussfeier, zitierte Ulrich aufs Podium und überreichte ihm als Anerkennung den Buchband »Niederbayerische Heimat«, herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus.
In Ulrichs Zeugnis glänzte zwar eine Eins in Mathematik, die jedoch seine schlechten Bewertungen in Erdkunde und Geschichte nicht recht wettmachen konnte. Er hatte sich leider nie dafür interessiert, welche der heimatlichen Hügel aus Lehm, welche aus Löß bestanden; er wollte sich nicht merken müssen, ob das Dörfchen Teisnach am Weißen oder am Schwarzen Regen lag.
Mit dieser Verstocktheit hatte er sich im Lehrerkollegium nicht nur Freunde geschaffen.
Eines Vormittags war er gerade darin vertieft gewesen, korrespondierende Zahnräder in sein Geschichtsheft zu malen, als ihn der Lehrer fragte, aus welchen Motiven Erzherzog Ferdinand im Jahre 1771 Maria Beatrix, die Erbin des Herzogtums Modena, geehelicht hatte. Ulrich antwortete, das sei ihm egal. Er malte auch dann noch weiter, als ihm der Lehrer, während er das Wort »Staatsräson« an die Tafel schrieb, einen Verweis androhte.
Letztendlich kam Ulrich doch ohne Verweis davon, weil sich später der Chemielehrer für ihn starkmachte. Bei ihm hatte Ulrich einen großen Stein im Brett, seit er es (nach drei vergeblichen Versuchen des Lehrers) geschafft hatte, der Klasse den Ablauf der Kalksteinreaktion begreiflich zu machen.
Der Chemielehrer war von Ulrichs Erläuterung jenes chemischen Vorgangs so angetan gewesen, dass er sie den Kollegen im Lehrerzimmer (in Schriftdeutsch allerdings) wörtlich wiedergegeben hatte: »Kalzium reagiert leidenschaftlich gern mit Sauerstoff – unbestritten. Sooft als möglich krallt es sich ein Sauerstoffatom und vernascht es. Was dabei herauskommt, heißt C a O . Das ist gebrannter Kalk – kennt jeder, der sich schon mal
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