Der kleine Fluechtling
Schulranzen schienen deutlich den Weg zum Übeltäter zu weisen. Sofort nach Ankunft des Zuges in Plattling schlug Dirs deshalb den Weg zur Realschule ein.
Ulrich sah kommen, dass Dirs den Direktor aufsuchen würde, um sich über die Despektierlichkeit der Realschüler einer angesehenen Persönlichkeit gegenüber zu beschweren. Womöglich würde er verlangen, ein Exempel zu statuieren, und der Direktor würde keine Wahl haben, denn Dr. Dirs – beliebt oder nicht – war als angesehene Persönlichkeit zu betrachten. Als Klassensprecher fühlte sich Ulrich einerseits verpflichtet, seine Mitschüler vor falschen Anschuldigungen zu bewahren, andererseits wollte er Bulli nicht verraten. Sie waren in schlechten Zeiten Freunde gewesen und würden es auf Gedeih und Verderb bleiben. Bulli und sämtliche Realschüler herauszuhalten konnte nach Ulrichs Dafürhalten wenn überhaupt, dann nur glücken, wenn er den Direktor über den Sachverhalt informieren würde, bevor Dirs eintraf.
Hastig rannte er über den Bahnsteig auf die Unterführung zu, die zur Straße führte. Dort fing ihn Bulli ab und hielt ihn fest.
»Scheller, du darfst mich net aufbringen! Wennst mich aufbringst, dann hast mein Leben aufm Gwissen. Weil dann is die Lehrstell hin, sagt der Sabe. Und wenn die hin is, derschlagt mich der Vater.«
Ulrich vermochte Bullis Angst recht gut nachzufühlen, doch genau das komplizierte ja alles. Er bohrte die Schuhspitze in den Schnee und fragte sich, ob er für Bulli die Kastanien aus dem Feuer holen konnte, ohne sich Brandwunden einzuhandeln. Dann bat er Bulli, ihn loszulassen, nickte ihm ernst zu und ging langsam davon. Er hatte nun keine Eile mehr. Dirs war sowieso nicht mehr einzuholen.
Als Ulrich ins Schulgebäude trat, stand der Direktor, umgeben von einem bestürzten Lehrkörper, auf dem Siegerpodest in der Pausenhalle und wetterte auf die Köpfe der vor ihm versammelten Schüler hinab. Es war also gekommen, wie Ulrich befürchtet hatte. Dirs wollte Blut sehen. Zum einen weil er sich beleidigt, gekränkt und geschmäht sah, zum andern weil er seit Jahren über das Gewimmel von Realschülern in Zugabteilen giftete.
Die Verdorbenheit der Jugend ruiniere den guten Ruf der Schule, schrie der Direktor, Sitte, Anstand und Respekt würden mit Füßen getreten und so weiter und so fort. Irgendwann schloss er mit den Worten: »Derjenige, der unsere Erziehungsanstalt heute Morgen in Misskredit gebracht hat, meldet sich jetzt auf der Stelle!«
Stille. Keine einzige Fingerkuppe regte sich. Dem Direktor entschlüpfte ein Ächzen. Im Lehrkörper fing es an zu knistern.
Ulrich kämpfte sich zum Podest durch.
»Herr Direktor.«
Die beiden Worte blieben einsam über den Atemluftwolken aus sechsundneunzig Schülermündern hängen. Nichts rührte sich. Ulrich seufzte. Würde er hier sprechen müssen, hier, vor allen anderen?
Als Ulrich neu ansetzte, kam plötzlich Leben in den Direktor. Er scheuchte die Schülerschar zu den Klassenzimmern, Ulrich zitierte er ins Direktorat.
Erstaunlicherweise gelang es Ulrich recht schnell, den Direktor davon zu überzeugen, dass der Übeltäter nicht unter den Schülern zu suchen war.
Er könne das beschwören, sagte Ulrich und hob beide Hände, als hätte ihm jemand ein Gewehr auf die Brust gesetzt.
»Gut, gut«, beschwichtigte der Direktor. »Nenn mir einfach den Schuldigen. Ich werde Dr. Dirs davon in Kenntnis setzen, und damit ist die Sache für unsere Schule erledigt.«
Es war ein hartes Stück Arbeit (Ulrich klebte am Ende das Hemd am Rücken), dem Direktor klarzumachen, dass er niemanden verpfeifen würde – unbestritten.
Der Direktor drohte mit Beugehaft in der Besenkammer.
Ulrich antwortete, er würde lieber in der Besenkammer Schimmel ansetzen, als zum Verräter zu werden.
Der Direktor sprach von Rauswurf aus der Schule.
Das wäre unbesonnen, sagte Ulrich.
Erst beim Klingelzeichen zur ersten Pause lenkte der Direktor ein. Er ruderte zurück, weil Ulrich anbot, Dr. Dirs aufzusuchen und die Sache mit ihm zu bereinigen.
Auf der Stelle, verlangte der Direktor und stellte Ulrich eine Unterrichtsbefreiung für zwei Stunden aus.
Ulrich machte sich sogleich auf die Socken.
»Unbestritten«, sagte er zu Dr. Dirs in dessen Büro im Obergeschoss der Firma Installation & Heizgeräte Wankel, »ist die Tat ungehörig und unverzeihlich. So etwas darf einfach nicht vorkommen, das ist rüpelhaft und garstig, vorlaut und unverschämt.«
Dr. Dirs nickte vehement.
»Doch«, fuhr Ulrich
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